Sabine Jarosch

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Postkoloniale Theologie nach der Shoah?

Eine Analyse von Täter- und Opfer-Konzeptualisierungen im christlichen Diskurs über Israel und Palästina in Deutschland

Kontextuelle und Befreiungstheologien setzen sich seit den 1960er Jahren für einen Prozess der Befreiung von marginalisierten Menschen aus Gewalt- und Unterdrückungsverhältnissen ein. Mit der vorrangigenOption für die Armen wurde ein Fokus auf die Opfer der Geschichte gelegt und postuliert, dass deren Unrechtserfahrungen einer theologischen Antwort bedürfen, die diese nicht länger in Kauf nehmen dürfen. Die dort bereits begonnene Kritik des iberoamerikanischen Kolonialismus wurde später durch postkoloniale Ansätze  vertieft, in denen das Verhältnis von Zentrum und Peripherie u.a. mit dem Begriff des Imperiums umschrieben wird. Aus diesem Fokus ergibt sich eine echte ethische Herausforderung: Wie kann das Unrecht, das die Opfer erleiden, skandalisiert werden, ohne höchst deutungsmächtigen Konstruktionen von Täter*innen und auch von Opfern zu verfallen, die wiederum neues Unrecht hervorbringen?

Im aktuellen Diskurs über den Israel-Palästina-Konflikt werden die Aporien von Täter- und Opfer-Repräsentationen wie in einem Brennglas besonders deutlich. Es bestehen Opferkonkurrenzen (Michael Rothberg) zwischen verschiedenen Gruppen. Opferschaft wird abgesprochen, Täterschaft zugeschrieben und die Situation wirkt aufs äußerste verfahren. Dies scheint nicht nur mit dem Konflikt selbst zu tun zu haben, sondern auch damit, mit welch explosiver Emotionalität er weltweit verhandelt und reinszeniert wird. In meinem Promotionsprojekt interessiert mich die Rezeption des Konfliktes aus christlich-theologischer Perspektive in Deutschland. Dabei beschränke ich mich auf Aktivitäten, Veröffentlichungen und Stellungnahmen aus dem Protestantismus und darin auf diejenigen, die der weltweiten Ökumene und oft auch befreiungstheologischen Anliegen aufgeschlossen gegenüber stehen. Nachdem ich einerseits aus den befreiungs- und postkolonial-theologischen Auseinandersetzungen mit dem Opferbegriff (Kapitel 1) als auch andererseits aus der Antisemitismusforschung (Klaus Holz, Monika Schwarz-Friesel, Astrid Messerschmidt) und der Post-Shoah-Theologie (Björn Krondorfer, Norbert Reck, Katharina von Kellenbach) heraus (Kapitel 2) heuristische Kategorien zur Analyse von Täter- und Opfer-Verhältnissen entwickle, wende ich diese Täter-Opfer-Kategorien im Rahmen einer Diskursanalyse auf mein Material hin an (Kapitel 3).

Der bisherige Stand der Arbeit bestätigt die These, dass im evangelisch-ökumenischen Israel-Palästina-Diskurs mit Hilfe der Imperiums-Metapher u.a. Israel zum Täter schlechthin dämonisiert wird. Dass deutsche Diskursteilnehmer*innen nicht aus einer neutralen Position heraus sprechen, sondern verstrickt sind in Phänomene der Mittäter- und Komplizenschaft, wird sehr wenig bis gar nicht reflektiert oder sogar geleugnet. Der positive Bezug auf postkoloniale bzw. Imperiums-kritische Theologien nimmt dabei die Funktion ein, die selbstkritische Auseinandersetzung mit christlichem Antisemitismus als der Vergangenheit angehörig abzuwehren. Insgesamt fällt eine große Emotionalität und Vehemenz auf.

Im letzten Teil der Arbeit (Kapitel 4) suche ich nach theologischen Parametern für alternative Täter- und Opfer-Konzeptualisierungen, die Antisemitismus und Kolonialismus nicht länger gegeneinander ausspielen, aber zugleich eine Analyse von Herrschaftsverhältnissen ermöglichen, in denen tatsächlich weiterhin Opfer produziert werden. Ein theologischer Ausweg wird darin gesehen, sich der eigenen Verstrickung in Schuld(geschichte), Komplizen- und Mittäterschaft zu stellen. Denn dies erst kann von defensivem Kreisen um sich selbst befreien und neue Formen der Empathie und Solidarität mit den vielfältigen Opfern ermöglichen. Wegführende Ansätze für eine solche Perspektive finden sich beispielsweise in der Post-Shoah-Theologie, den kritischen Weißsseinsstudien oder der migrationssensiblen Religionspädagogik. Die Auseinandersetzung mit den Täter- und Opfer-Konzeptualisierungen des Antisemitismus bleibt sowohl aus deutscher als auch aus christlicher Perspektive Aufgabe einer kontextuellen deutschen Theologie.

Forschungsinteressen

  • christlicher Antisemitismus bzw. Antijudaismus
  • Befreiungstheologien
  • postkoloniale und postkoloniale feministische Theorien und Theologien
  • kritische Weißseinsstudien
  • Interkulturelle Theologie
  • Intersektionalitäts- bzw. Interdependenzforschung

Werdegang

Seit 04/2014 Promotion im Fach Interkulturelle Theologie
10/2013 Kirchliches Examen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Nachdiplomierung durch die Humboldt-Universität zu Berlin
2005–13 Studium der Evangelischen Theologie in Marburg, Buenos Aires, Hamburg, Berlin

Anstellungen

SoSe 2018 Leitung des Seminars „Kontextuelle, Befreiungs- und postkoloniale Theologien“ im Fachgebiet Interkulturelle Theologie, Fachbereich Ev. Theologie der Universität Rostock
2014–18 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg 1887 „Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten“, Universität Rostock mit Elternzeitunterbrechung (Geburt der Tochter im Aug. 2015)
2008–09 Leitung des Tutoriums „Theologische Sozialethik“ im Fachgebiet Sozialethik, Fachbereich Ev. Theologie der Philipps-Universität Marburg
2006–08 Frauenbeauftragte am Fachbereich Ev. Theologie der Philipps-Universität Marburg

Publikationen

Jarosch, Sabine, Postkoloniale Theologie nach der Shoah? Eine Analyse von Täter‐ und Opfer-Vorstellungen, in: Andreas Nehring/Simon Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018, 73-91.

Jarosch, Sabine, Radikale Pluralität vs. universalistische Großtheorie – Debatten in der Befreiungstheologie heute, in: Stoellger, Philipp/Kumlehn, Martina (Hg.), Wortmacht/Machtwort. Deutungsmachtkonflikte in und um Religion (Interpretation Interdisziplinär 16), Würzburg 2017, 271-296.

Jarosch, Sabine, Vielfalt, Differenz und Herrschaftsverhältnisse in kulturwissenschaftlicher und postkolonial-theologischer Perspektive, in: Jäger, Sarah/Jost, Renate (Hg.), Vielfalt und Differenz. Intersektionale Perspektiven auf Religion und Feminismus (Internationale Forschungen in Feministischer Theologie und Religion. Befreiende Perspektiven 6), Münster 2017, 71-88.

Jarosch, Sabine, Koloniale Wunden. Eine Herausforderung für Theologie und Kirche in Deutschland, in: Reformation und die Eine Welt. Das Magazin zum Themenjahr 2016 (2015), 46f. Online einsehbar unter: http://www.reformation-und-die-eine-welt.de/nc/das-magazin/online-lesen/#page/46.

Übersetzung ins Englische: Jarosch, Sabine, Colonial Wounds. A Challenge for Theology and the Church in Germany, in: EKD (Hg.), Reformation and the One World. The Magazine for the Theme Year 2016 (2016), 46f. Online einsehbar unter: http://www.reformation-und-die-eine-welt.de/das-magazin/online-lesen-en/#page/47.

Jarosch, Sabine, The Marginal God. Potentiale und Grenzen des postkolonialen Gottesbildes der Theologin Marcella Althaus-Reid, in: epd-Dokumentation 42 (2014), 32–59.

Vorträge/Workshops

30.06.18 Jarosch, Sabine: Politik und Religion – Welche Rolle spielt das Christentum in der Politik?. Podiumsteilnehmerin im Rahmen des Ökumenischen Stadtkirchentags in Rostock zusammen mit Altbundespräsident Dr. h.c. Joachim Gauck und der Referentin des Frauenwerks der Nordkirche Flora Mennicken, Rostock.
16.01.18 Jarosch, Sabine: Christlicher Antisemitismus. Eine Deutungsmachtanalyse von Täter- und Opfer-Konzeptualisierungen im Diskurs über Israel und Palästina. Vortrag im Rahmen der Begutachtung der DFG zur Verlängerung des Graduiertenkollegs Deutungsmacht, Universität Rostock.
22.–24.09.16 Jarosch, Sabine/Mackenthun, Gesa/Otto, Danny: Organisation des Symposiums "Hermeneutic conflict, cultural entanglement, and social inequality. Power of interpretation in intersectional perspective", Universität Rostock, Tagungsbericht: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7007.
17.06.16 Jarosch, Sabine: Postkoloniale Theologie nach der Shoah? Eine Analyse von Täter- und Opfer-Vorstellungen, Vortrag auf der Tagung „Postkoloniale Theologien: Deutsche Perspektiven. Chancen und Herausforderungen einer deutschsprachigen postkolonialen Theologie“, Universität Erlangen.
05.07.14 Jarosch, Sabine: „Koloniale Wunde“ und Transzendenz. Körper als Thema postkolonialer Theologien, Workshop auf der 7. Feministisch-theologischen Sommerakademie, Evangelische Akademie zu Berlin.
22.01.14 Jarosch, Sabine: Postkoloniale Gottesbilder bei Marcella Althaus-Reid, Workshop auf dem 24. Feministischen Studientag, Philipps-Universität Marburg.
13.10.12 Jarosch, Sabine: (Wozu) brauchen wir heute Feministische Theologie? Über die Relevanz der feministisch-theologischen Impulse von Dorothee Sölle für gegenwärtige Theologie, Kirche und Gesellschaft, Podiumsteilnehmerin auf dem Tagesseminar der Evangelischen Akademie und des Frauenwerks der Nordkirche, Hamburg.
16.09.11 Jarosch, Sabine: Antijudaismus in der (Befreiungs-)Theologie, Workshop auf der Befreiungstheologische Sommerschule, Münster.
16.09.11 Jarosch, Sabine/Offenberger, Bernhard: Marx vs./und Dekonstruktion. Eine Annäherung an aktuelle Debatten in der Befreiungstheologie, Gemeinsamer Workshop auf der Befreiungstheologischen Sommerschule, Münster.
22.09.10 Jarosch, Sabine: Die lateinamerikanische Befreiungstheologie am Beispiel der Frauenarbeit der Ökumenischen Menschenrechtsbewegung (MEDH) in Argentinien, Vortrag auf der Befreiungstheologischen Sommerschule, Münster.

Auszeichnungen

13.10.2014 Auszeichnung der Abschlussarbeit „The Marginal God. Potentiale und Grenzen des postkolonialen Gottesbildes der Theologin Marcella Althaus-Reid“ durch den Hanna-Jursch-Nachwuchspreis der Evangelischen Kirche in Deutschland.  
07/2007–10/2013 Stipendiatin des Ev. Studienwerks Villigst e.V.  
15.10.2012 Auszeichnung der Kirchengeschichtlichen Hauptseminararbeit: „Der ‚Judenmissionar‘ Johannes F. A. de le Roi und sein Verhältnis zum Antisemitismus im deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts“ durch den Helmut-Thielicke-Preis 2012 des Vereins „Theologie am Tor zur Welt e.V.“, Hamburg.19.10.2012 Auszeichnung der gleichen Arbeit durch den Hochschulpreis des Evangelischen Bundes Hessen und Nassau 2012.
13.12.2012 Auszeichnung der gleichen Arbeit mit dem Leistungsstipendium der Hessischen Lutherstiftung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.  
14.06.2005 Auszeichnung durch die Karl-Doerth-Stiftung des Gymnasium Leopoldinum Detmold für hervorragende Leistungen in allen Fächern.  

Mitgliedschaften/Engagement

  • European Society of Women in Theological Research (ESWTR), 11/2014–11/2016 Beisitzerin im Vorstand der deutschen Sektion
  • berufen in die Theologische Kommission des Evangelischen Missionswerks (EMW)
  • Inhaltliche und organisatorische Mitarbeit an der Konzeption eines postkolonialen Stadtrundgangs für die Stadt Rostock im Verein Soziale Bildung e.V.