Yves Bizeul

Yves Bizeul

Deutungsmacht und politischer Mythos in der Demokratie

Die Deutungsmacht wird heute in der politischen Theorie vor allem durch Autorinnen und Autoren um Hans Vorländer thematisiert (Schubert/Kosow 2007). Deutungsmacht ist, wie Bourdieu feststellt, eine symbolische Macht (Bourdieu 2001). Sie setzt symbolische Ressourcen (Wertesysteme, Überzeugungen, Einstellungen usw.), also eine intransitive Macht ein, um eine transitive Macht zu erlangen (Schaal 2006). Da die Vertreter der Postdemokratietheorie in erster Linie einseitig die Macht als power to verstehen und die Dimension der Symbolik vernachlässigen, sind sie kaum in der Lage, die heutige Realität der liberalen Demokratie adäquat zu verstehen.

Zu den symbolischen Ressourcen gehören auch und vor allem die politischen Mythen. Die moderne Demokratie benötigt den politischen Mythos ebenfalls zu Legitimationszwecken (Bizeul 2016). Er ist fester Bestandteil des demokratischen belief system, aus dem die demokratische politische Kultur entsteht und erfüllt einen wichtigen stabilisierenden Auftrag, denn Demokratie ist „konstitutiv unvollständig“, eine „ewige Baustelle“ (Reichenbach 2001, 408f.). Sie geht mit einer Auflösung der Grundlagen aller Gewissheiten, mit einer radikalen Kontingenz des Sozialen und einer Verwischung aller Identitätsmerkmale einher (Lefort 1982, 463).

Demokratien brauchen daher mythische Narrationen, um Stabilität zu erlangen. Man findet in Demokratien zwei große „Gründungsfiktionen“: die Fiktion des Gründungsakts der Nation als Einheit und die des Gründungsakts des demokratischen Verfahrens der Mehrheitsentscheidung, das die ursprüngliche Einheit zwangsläufig zerstört, indem es politische Mehrheiten und Minderheiten erzeugt (Rosanvallon 2010, 8f.). Beide Gründungsmythen müssen geglaubt werden und setzen eine gemeinsame Deutung voraus. Sie gehören – zusammen mit den zahlreichen nationalen Gründungsmythen – zum sog. „nichtkontroversen Sektor“ der Demokratie (Fraenkel 1991, 246ff.).

Dort herrscht allerdings auch ein breiter „kontroverser Sektor“ – Chantal Mouffe spricht in diesem Zusammenhang von einem „agonistischen Pluralismus“ (Mouffe 2014). Politische mythische Narrative werden bei den zahlreichen gesellschaftlichen Konflikten von den politischen Akteuren eingesetzt und von ihnen unterschiedlich gedeutet. Sie tragen dazu bei, die Auseinandersetzungen zwischen Identitäten, Klassen, Akteuren der Zivilgesellschaft, Ethnien bzw. Religionsgemeinschaften sichtbar zu machen und somit auch zu gestalten. Sie generieren wiederum „Gegen-“ bzw. „Konkurrenzmythen“ und werden im Kampf um die Deutungshoheit bewusst eingesetzt.

In der reflexiven Demokratie der Spätmoderne stellt man eine Zunahme der auch mit Hilfe von Mythen ausgetragenen Deutungsmachtkonflikte fest. Wandel und Vielfalt der Interpretationen erhalten dort einen zentralen Stellenwert. Zu den Inszenierungen und Mythen der politischen Machthaber kommen in den heutigen contredémocraties (Rosanvallon 2006) diverse Gegeninszenierungen und Gegenmythen hinzu. Es entsteht daraus eine Art „Kampf“ der Inszenierungen und mythischer Narrationen, der auch zur Entschleierung von Machenschaften und zur Aufdeckung von Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen beitragen kann.

Man kann zwar mit Jean-William Lapierre in der heutigen Abwesenheit eines einheitlichen religiösen bzw. ideologischen Gründungsmythos einen Grund für die derzeit wachsende Politikverdrossenheit sehen (Lapierre 1995, 197). Andererseits lässt sich diese Entwicklung auch als demokratischer Gewinn deuten, zumal in der pluralistischen Demokratie die symbolische Benennungsmacht nicht nur im Staat zu finden ist. Sie wird an verschiedenen Orten ausgeübt.

Es existiert ein demokratieaffiner Umgang mit dem politischen Mythos. Hans Vorländer formuliert: „Kultische Praktiken und mythische Narrationen können auch der Stabilisierung partizipativer und demokratisierender Formen des politischen Lebens dienen“ (Vorländer 2013, 27). Heute benutzen allerdings immer mehr Populisten Verschwörungsmythen, um ihre Ziele zu erreichen. Solche Narrationen führen zu einer Übertragung von Schuldgefühlen auf „böse“ Sündenböcke und vermitteln den Menschen, die sich als angeblich „Wissende“ und „Reine“ betrachten, ein Gefühl von Überlegenheit gegenüber der breiten Masse der „Verblendeten“ und der kleinen Gruppe der unreinen Verschwörer. Sie versuchen eine hegemonische Hauptdeutung durchzusetzen und stellen daher eine Herausforderung für die pluralistische Demokratie dar.

In den totalitären „politischen Religionen“ der Moderne nahm der Machthaber die infolge der Säkularisierung von Gott verlassene Stelle ein. Folglich bildete nicht mehr wie im Absolutismus die Eucharistie das Denkmodell hinter der bildlichen Darstellung der politischen Herrscher, sondern die Epiphanie. Das Bild des politischen Führers diente im Totalitarismus der Erscheinung bzw. Selbstoffenbarung einer gottähnlichen Gestalt. Zugleich fand eine Hypostasierung des Herrschers statt. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen Herrscherdarstellungen und Großinszenierungen totalitärer Herrscher. Angesichts des heutigen Pluralismus ist auch das Zeitalter der politischen Epiphanie weitgehend vorbei.

An ihre Stelle ist jetzt die Ära der Thaumaturgie getreten. Die heutigen Populisten sind das Ergebnis der Dominanz der Reality-Shows auch in der Politik. Sie behaupten, Wunder vollbringen zu können und inszenieren sich als Zauberer. Als solche sind sie in der Lage, ihre Deutungsmächtigkeit mit Hilfe von Zauberformeln wie das mittlerweile bekannte „America first“ zu behaupten. Wie Guy Hermet betont, ist der Erfolg der Populisten auf die Sehnsucht nach einer quasi-magischen Aufhebung der Distanz zwischen persönlichen Wünschen und ihrer Realisierung zurückzuführen; eine Distanz, die aufgrund der Komplexität der realen Welt in den meisten Fällen bestehen bleiben muss. Die Anziehungskraft der Populisten entsteht aus dem Glauben, Wunschträume ohne eigene Leistungen, große Anstrengungen und schmerzliche Transformationen verwirklichen zu können (Hermet). Die zahlreichen Verschwörungsmythen, die sich in den sozialen Medien vermehren, bedienen sich dieser Vorstellung. Die geplanten Dissertationsprojekte sollen diese Hypothesen überprüfen. Ein direkter Bezug zur Gegenwart und Aktualität wird erwartet.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Die Rolle der Mythen in den modernen Demokratien.
2. Die Instrumentalisierung von politischen Mythen in heutigen Deutungsmachtkonflikten.
3. Mythen und Kampf um die Hegemonie in den spätmodernen Demokratien.
4. Populismus und politische (Verschwörungs-)Mythen.

Jörn Dosch

Jörn Dosch

Der Deutungswandel des Entwicklungskonzeptes und dessen Konsequenzen für Wissenschaftsdiskurse und Theoriebildung

Kaum ein Konzept in den internationalen Beziehungen ist in den vergangenen Jahrzehnten einem vergleichen Deutungswandel ausgesetzt gewesen wie der Entwicklungsbegriff. Die Implikationen dieses Um- und Neudeutungsprozesses gehen dabei weit über definitorische Herausforderungen hinaus und materialisieren sich erstens in der Ausdifferenzierung theoretischer Diskurse und Erklärungsansätze und zweitens in der Modifizierung der Strategien staatlicher und nichtstaatlicher Akteure in der praktische Entwicklungszusammenarbeit.

Diese folgte in ihrer ursprünglichen Konzeption der 1950er und 1960er Jahre der einfachen Annahme, dass die Existenz von Entwicklung im Sinne von Industrialisierung und darauf beruhenden Wohlfahrtsstandards zwangsläufig das parallele Vorhandensein von Unterentwicklung bedeute. Aus dieser Perspektive stellte sich Unterentwicklung als Zustand absoluter Armut infolge vorindustrieller Wirtschaftsstrukturen und -prozesse dar, den es durch die Modernisierung der Produktionsstrukturen und eine damit einhergehende kontinuierliche Steigerung des Bruttoinlandsprodukts zu überwinden galt. Diese deterministische wie eurozentristische Sichtweise schuf die Grundlage für eine Dichotomisierung der Welt in den entwickelten Norden und den unterentwickelten Süden, reiche Geber und arme Nehmer oder die Erste und Dritte Welt.

Die durch die Vereinten Nationen vorangetriebene Popularisierung des Begriffs der „menschlichen Entwicklung“, das ein an rein ökonomischen Indikatoren ausgerichtetes Entwicklungskonzept transzendierte und um soziale Faktoren erweiterte, bildete eine wichtige Vorstufe in der Auflösung des Nord-Süd Gegensatzes im Entwicklungsdiskurs. Die Verständigung auf die acht großen Millennium Entwicklungsziele (MGDs) im Jahr 2000 schärfte das Bewusstsein eines globalen Gemeinwillens, der auf der Gemeinsamkeit der Interessen von Industrie- und Entwicklungsländern beruhte und damit auch an den schon zwei Jahrzehnte zuvor von der Nord-Süd-Kommission veröffentlichten Bericht „Das Überleben sichern“ anknüpfte (Brandt-Bericht 1980). Die 2015 von mehr als 150 Staaten verabschiedeten Nachhaltigen Entwicklungsziele (Agenda 2030) bilden im Sinne eines „Weltzukunftsvertrages“ das bislang umfassendste Entwicklungsverständnis ab, welches soziale und wirtschaftliche Vorgaben sowie Umweltziele unter einem Dach vereint und für alle Länder in gleichem Maße Gültigkeit besitzt.

Zwar existiert nun ein erweitertes Set an Indikatoren, das Entwicklung zu bestimmen versucht, die ernüchternde Feststellung des Brandt-Berichts (1980, 64) bleibt jedoch bestehen. Demnach bezeichnet Entwicklung „den erwünschten sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt – und es wird immer unterschiedliche Auffassungen darüber geben, was erwünscht ist“. Fest steht somit, dass jedes Konzept von Entwicklung – weil es sich nicht auf einen statischen Zustand – sondern ein Ziel bezieht, auf einer normativen Grundlage beruht, die abhängig ist von individuellen und kollektiven Wertvorstellungen in Raum und Zeit (Nohlen/Nuscheler 1993, 56).

Normsetzung und -interpretation erfordert agency. Wer aber sind die Akteure, die über die Deutungsmacht im Entwicklungskurs verfügen? Welche Akteure – und unter welchen Bedingungen – vollziehen den Deutungsprozess in dessen Verlauf aus dem „Cluser-Begriff“ Entwicklung ein Konzept entsteht, dass – zumindest vorgeblich – den Anforderung intersubjektiver Überprüfbarkeit genügt? Bis zu den MDGs war diese Frage zumindest soweit zu beantworten, als eine im Ganzen an westlichen Modellen ausgerichtete Entwicklungspolitik auch auf einem transatlantischen Deutungsmonopol hinsichtlich des Entwicklungsbegriffes beruhte und in Großtheorien wie z.B. der Modernisierungstheorie (Rostow 1960, Huntington 1971), ihren Ausdruck fand.

Ergänzt wurden die theoretischen Perspektiven um die in den 1970er Jahren als Kritik an der Deutungsmacht der Industriestaaten entstandenen lateinamerikanischen Dependencia-Schule (Cardoso/Faletto 1975), die jedoch auch maßgeblich von deutsche Autoren geprägt wurde (Frank 1975, Senghaas 1974). Bereits 1992 postulierte Ulrich Menzel das „Ende der ‚Dritten Welt' und das Scheitern der großen Theorie“. Auch ein Vierteljahrhundert später hat der wissenschaftliche Entwicklungsdiskurs jedoch noch keine neuen Ansätze hervorgebracht, die in der Lage wären, die inhaltliche Ausdifferenzierung des Entwicklungskonzeptes und die damit eingehende Diversifizierung von Deutungsmacht analytisch zu fassen. Die maßgebliche Involvierung Chinas, Indiens und Brasiliens – um nur einige Beispiele zu nennen – im Prozess der Formulierung der Agenda 2030 bestätigt die wachsende Bedeutung nicht-traditioneller Interpretationsversuche, die z.B. auch spätestens seit den 1980er Jahren als Konsens wahrgenommenen kausalen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und politischer Freiheit einerseits und wirtschaftlicher Entwicklung andererseits in Frage stellen (zumindest was den prominenten Input Chinas anbelangt).

Das Teilprojekt versucht daher, die bestehende Forschungslücke zu reduzieren, indem systematisch und vergleichend neue bzw. nichttraditionelle Entwicklungsdiskurse analysiert und auf den Aspekt der Herausbildung und Differenzierung regionaler und globaler Deutungsmacht in eben dieser Entwicklungsdebatte untersucht werden. Ziel ist es zunächst, eine Typologie der kontemporären Deutung von Entwicklung zu erstellen und darauf aufbauend pretheoretische Ansätze zu entwickeln, die der Hypothesenbildung und schließlich der Formulierung einer nicht länger an den Paradigmen der OECD-Welt ausgerichteten Entwicklungstheorie dienlich sein können.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Analyse wissenschaftlicher und politischer Entwicklungsdiskurse in a) China, b) Indien, c) Indonesien, d) Brasilien, e) Südafrika
2. Die Rolle der Nicht-OECD Staaten bei der Formulierung der Agenda 2030
3. Typologisierung kontemporärer Entwicklungsdiskurse
4. Untersuchung von konzeptionellen Deutungsmachtkonflikten in der Implementierung der Entwicklungszusammenarbeit der großen multilateralen Organisationen und Entwicklungsbanken

 

Judith Gärtner

Judith Gärtner

Deutungen im Konflikt – Genese und Geltungsanspruch von Deutungen im nachexilischen Judentum

Vor dem Hintergrund der hegemonialen persischen Herrschaft (6.-5. Jh. v. Chr.), die auf Semantiken expliziert in Narrationen und Bild (Stoellger 2004) basiert und durch mythisch fundierte Gründungsgeschichten legitimiert wird, ist die politische, kulturelle und religiöse Neukonstitution der nachexilischen Gesellschaft in Jehud zu beschreiben. Dabei wird in den alttestamentlichen Literaturen eine Spannung zwischen nicht mehr tragfähigen Narrationen und der Notwendigkeit artikuliert, Umdeutungen und Neudeutungen der Gründungsgeschichte aus nachexilischer Perspektive mit dem Anspruch deutungsmächtig zu werden, zu generieren.

Diese sich literarisch niedergeschlagenen gesellschaftlichen Spannungen sind in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus der alttestamentlichen Forschung gerückt worden (Grätz 2007, Willi 1995). Sie als Deutungsmachtkonflikte zu beschreiben, ist bisher erst in Ansätzen unternommen worden. Dies gilt insbesondere für eine systematisierende Metaperspektive auf die unter persischer und hellenistischer Zeit in Juda zu beschreibende gesellschaftliche Konfliktsituation um die eigene Identität, an dessen Ende nicht nur die eine autoritative Deutung der kollektiven Identität Israels steht, sondern aufgrund der heterogenen gesellschaftlichen Situation in der Provinz Jehud ein Zusammenspiel mehrerer und vor allem widerstreitender Deutungen (Gärtner, 2012). Insofern integrieren die kanonisch gewordenen Schriften des Alten Testaments in Spannung zueinander stehende Narrationen und Semantiken, und beschreiben somit den Deutungsmachtkonflikt als den eigentlich deutungsmächtigen Diskurs.

Zu profilieren ist dieser Problemhorizont an der Esra-Nehemia-Erzählung (Schunck 2006, Willilamson 1985). Dieses Erzählkorpus entwirft aus dem Rückblick (vermutlich in hellenistischer Zeit) eine identitätsstiftende Narration über die Neukonstituierung der idealen nachexilischen Gesellschaft in persischer Zeit im Hinblick auf Sozialstrukturen, ethische Handlungsnormen und theologische Legitimierungen (Grätz). Daher stellt die Frage nach der Neukonstruktion der kollektiven Identität Judas in Auseinandersetzung mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen ein zentrales Thema der Erzählung dar.

Vor diesem Hintergrund werden zwei auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Deutungsmachtkonflikte in der Erzählung inszeniert. Der erste Deutungsmachtkonflikt entzündet sich an dem Geltungsanspruch von Handlungsnormen. Dazu greift die Erzählung auf einen Tora-Begriff zurück (Schipper 2012), der als Deutung der göttlich überlieferten Weisung normative Geltung beansprucht.

Die zweite Ebene von Deutungsmachtkonflikten setzt bei der Gründungsgeschichte Israels als Gottesvolk an. Als zentrales Beispiel hierfür ist das Volksklagegebet in Neh 9 zu nennen, in dem geschichtstheologisch die Anfänge Gottes mit seinem Volk bis in die Jetzt-Zeit der Erzählung entworfen werden (Gärtner, 2017). Das Gebet stellt über die Gründungsgeschichte eine identitätsvergewissernde und identitätsstabilisierende Funktion dar (Newmann 1998, Pröbstl 1997), so dass die in der Nehemia-Schrift erzählte Neukonstituierung der nachexilischen Gemeinschaft von den Anfängen her gedeutet und damit legitimiert wird. Dabei wird über den Tora-Begriff eine Kohärenz zwischen den Zeiten der Anfänge und der Jetzt-Zeit als Neukonstituierung der nachexilischen Gemeinschaft konzipiert, um auf diese Weise die über die Auslegung der Tora neuformierten Handlungsnormen von den Ursprüngen her zu legitimieren. Gleichzeitig bietet die im Gebet entfaltete Gründungserzählung eine Um- bzw. Neu-deutung der im Pentateuch enthaltenen Narration und stellt somit ihre Gründungserzählung als Alternative zum Erzählbogen des Pentateuch dar.

Daher macht die Narration der Nehemia-Schrift im Ganzen, insbesondere aber die literarische Konzeption des Tora-Begriffs, exemplarisch die Genese von Deutungsmachtkonflikten in persisch-hellenistischer Zeit sichtbar, indem in ihr sowohl die Pluralität als auch die Strittigkeit von Deutungen aufgezeigt werden. Dabei wird zugleich der Fragehorizont nach der Normativität und Deskriptivität des Deutungsmachtbegriffs eröffnet.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Die Deutungs-Macht des Anfangs – der Geschichtspsalm in Neh 9
2. Deutung und Bedeutung von Tora in der Nehemia-Erzählung
3. Sabbat und Mischehen – Deutungsmachtkonflikte in persisch-hellenistischer Zeit

 

Heiner Hastedt

Heiner Hastedt

Praxis und Deutungsmacht: Die Rolle von belief systems beim Handeln unter Zeitdruck und Unsicherheit

Die klassischen Vernunftmodelle in der Philosophie arbeiten ebenso wie viele heutige Rationalitätstheorien, die das Modell des homo oeconomicus nutzen oder sich an Entscheidungs- und Diskurstheorien orientieren, mit der Unterstellung, dass Menschen vernünftig handeln können und tatsächlich diesem Können auch oft folgen. Beim Handeln unter Zeitdruck und Unsicherheit wird diese rationalistische Unterstellung besonders fragwürdig. So bildet diese im Alltag der modernen Welt zunehmend häufiger werdende Form des Handelns den Konfliktfall, der für den vermeintlichen Normalfall des animal rationale Probleme aufwirft.

Die Ausgangshypothese des Teilprojektes lautet, dass die Deutungsmacht von Grundüberzeugungen („belief systems“) besonders beim Handeln unter Zeitdruck und Unsicherheit Routinisierungen erlaubt, die Schwächen zeitaufwändiger Rationalisierungen mit ihren Sicherheitsunterstellungen vermeidet. Solche Grundüberzeugungen („belief systems“) bilden Hintergrundannahmen und Eigenverbindlichkeiten, die dem fluiden Wirken des einzelnen Nachdenkens – selbst wenn sie chaotisch sind – Kontur verleihen. Grundüberzeugungen beziehen die ganze Person ein. Nicht nur Religionen und Religionshybride basieren auf Grundüberzeugungen, sondern – so die Hypothese – ebenso das Handeln in Wissenschaft und Politik (vgl. Knorr-Cetina 1991 und Lakoff/Wehling 2008). Verallgemeinert ist in der Anthropologie mit dem Menschen als „krummem Holz“ (Kant) zu rechnen, der von einem Bündel auch nicht-rationaler Handlungsmotive geleitet wird.

Das Projekt thematisiert Deutungsmacht im Hinblick auf belief systems, indem zwei Ebenen voneinander abgehoben werden: Zum einen wird der Begriff interdisziplinär empirisch-analytisch genutzt, um zu untersuchen, welche Macht die Deutungen tatsächlich entfalten. Zum anderen wird das Interesse in der Tradition der Aufklärung verfolgt, die besseren Deutungen normativ auszuzeichnen und zur Macht zu verhelfen. Während sich der erste Zugriff um Neutralität bemühen muss, bekennt sich das Projekt in der zweiten Perspektive zu einem die Wahrheits- und Richtigkeitsfrage verfolgendem antirelativistischen Engagement, um der Vernunft eine Chance zu geben, gerade weil sie gefährdet und getragen wird von belief systems. Es besteht allerdings – anders als der Sprachgebrauch suggeriert – kein einfacher Gegensatz zwischen Vernunft und belief systems; denn die Vernunft kann in impliziter und in gebildeter Form in unsere Grundüberzeugungen handlungsleitend eingegangen sein. Vernunft und belief systems stehen sich nicht wie in der alten Vernunftmetaphysik dualistisch gegenüber, sondern die reflexive Vernunft kann sich Rationales ebenso wie Nicht-Rationales zum Gegenstand nehmen und zugleich die Verkürzungen der instrumentellen Vernunft vermeiden (Hastedt 2016; vgl. schon Hastedt 2005 und 2013).

Das Projekt kann von den beiden Seiten des Empirisch-Analytischen und des Normativen her bearbeitet werden. Gerade für Nicht-Philosophen sind analytisch-empirische Studien denkbar, die in theoretischer Perspektive die deutungsmächtige Rolle von belief systems untersuchen. Aus den zahlreichen möglichen Fallbeispielen sei erwähnt:

1. Die Kuba-Krise 1962, bei der im Dominanzstreben der beteiligten Mächte trotz Abschreckungsdoktrin ein Atomkrieg nur knapp vermieden werden konnte und die gerade auf Seiten der USA von Protagonisten der vermeintlich rationalen Entscheidungstheorie beeinflusst worden ist (vgl. einleitend Greiner 2010 und später auf Entscheidungstheorie bezogen Axelrod 1984).
2. Der operierende Chirurg, der geprägt von evidenzbasierter Medizin auf dem Hintergrund statistischer Auswertungen dem einzelnen Patienten gerecht werden muss (vgl. zur Philosophie der Medizin Meyer-Abich 2010).
3. Der Ökonom und Politikberater, der in Nachtsitzungen die Rettung einer insolventen Bank oder eines insolventen Staates empfehlen oder davon abraten muss (vgl. Taleb 2012, Riedel 2013, Graeber 2015).

In diesen drei Beispielen lassen sich jeweils belief systems rekonstruieren, die den Handlungsrahmen bilden und zu konkreten Handlungen und Handlungsempfehlungen beitragen. Innerhalb der Philosophie sind Autoren besonders interessant und geeignet für die theoretische Annäherung, die die Gewissheitsorientierung von Erkenntnis und Handeln in Frage stellen. Entsprechende Versuche findet man besonders im Pragmatismus beispielsweise bei John Dewey (aber auch bei Autoren, die stärker in der Tradition vom späten Wittgenstein oder von Heidegger stehen). Die philosophische Arbeit kann sich von solchen Autoren anregen lassen, muss diese aber in einen systematischen Kontext stellen und sich der Interdisziplinarität des Projektes öffnen.

Bereits Descartes hat eine provisorische Moral empfohlen, solange die theoretischen Grundlagen des Handelns noch nicht zureichend wissenschaftlich erschlossen sind. Was bei Descartes als bald zu überwindender Ausnahmefall daherkommt, könnte ein Charakteristikum des Handelns insgesamt sein. Auch heutige Praktiker dürften sich – gerade unter Zeitdruck und Unsicherheit – an vagen Daumenregeln orientieren (vgl. weit verbreitet Dobelli 2012 und in der chinesischen Tradition von Senger 2001), die wiederum von Grundüberzeugungen getragen werden.

Wie können solche Regeln reflexiv verbessert und in belief systems verankert werden? Vermutlich sind offene und lernfähige Systeme besser als andere zur Reflexion geeignet; sie müssen die Ergebnisse des Nachdenkens allerdings in Routinisierungen und Institutionalisierungen überführen können, da Deutungsmacht vermutlich nicht nach immer neuen langwierigen und subtilen Untersuchungen erlangt wird, sondern durch Orientierungen, die die ganze Person einbeziehen, oft nur implizit bleiben und auch schnell verfügbar sind (Stegmaier 2008, Kahnemann 2012).

Eine vernünftige Handlungsorientierung in der Tradition der Aufklärung muss es also schaffen, den ganzen Menschen auch unter Zeitdruck und Unsicherheit zu leiten.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Empirisch-analytische Rekonstruktion deutungsmächtiger belief systems in einem ausgewählten Konfliktfall beim Handeln unter Zeitdruck und Unsicherheit;
2. Zur deutungsmächtigen Verknüpfung von Erkenntnis und Handeln im philosophischen Pragmatismus;
3. Belief systems anthropologisch untersucht als Grundüberzeugungen des Menschen;
4. Die Deutungsmacht des verdrängten Nicht-Rationalen in der rationalen Entscheidungstheorie und in anderen Modellen der instrumentellen Vernunft.

 

Klaus Hock

Klaus Hock

Islamdiskurse, oder: Wer hat das Sagen in Sachen „Islam“?

Zwischen Islamverherrlichung und Islamhass (Schneiders) gibt es ein breites Spektrum widerstreitender Islam-Deutungen, die sich fast durchgängig mit Machtansprüchen verbinden und so besonders heftig ausgetragene Deutungsmachtkonflikte hervorbringen.

1. Deutung kann dabei durch strukturell Vorgängiges [Institutionen, Instanzen...] oder aus sich selbst heraus [Argumentationen, Narrationen...] ihre Durchsetzungskraft gewinnen: Erwächst die Deutungsmacht der IS-Ideologie aus dem waffengestützten Kalifat oder aus dem im Manifest des IS festgehaltenen Mythos einer wahren islamischen Gemeinschaftsordnung – und umgekehrt die der fatwâ gegen den IS aus der Autorität ihrer 120 Verfasser als anerkannte ’ulamâ’ oder aus der Stärke der Argumentation? (Günther; Offener Brief). Liegt die Deutungsmacht bei der Kontroverse über die Ausrichtung islamischer Theologie eher in den inhaltlichen Ausführungen oder bei den dispositiven Agenturen [Universität/Institut vs. Islamverbände (Ceylan/Sajak; Khorchide/Schröder)]? Doch wird sich Deutungsmacht wohl nie in Reinform der einen oder anderen Seite [Semantik vs. Struktur] zuordnen lassen, zumal häufig Akteure am Werk sind, deren Deutung auch durch ihr Charisma an Macht gewinnt (McCants).

2. Jenseits konkreter Fälle von Deutungsmacht(konflikten) soll drei absichtlich breit gefassten Feldern besondere Aufmerksamkeit zukommen: Auf dem der Wissenschaft wurden mit Orientalismusvorwurf und postkolonialer Kritik grundlegende Anfragen an islambezogene Forschung gerichtet und verschiedentlich bereits in differenzierter Form rezipiert (Asad; Bauer; Medrow). Zudem sind mit der Frage nach der Deutungsmacht auch wissenschafts- bzw. disziplinengeschichtliche und -systematische Dimensionen thematisiert [Islamwissenschaft vs. islambezogene Wissenschaften (Poya/Reinkowski)]. Das Politikfeld (Hunger/Schröder) überschneidet mit einem Pol auch das Feld der Wissenschaft, inkl. institutionenpolitischer Fragen [islamische Theologie an den Universitäten (Engelhardt; Indenhuck); universitäre vs. Verfassungsschutz-Diskurse über Salafismus (Spielhaus)], und mit dem anderen das der Öffentlichkeit, wobei sich besonders kontroverse Diskussionen [z.B. „Kopftuchdebatte“, Minarettbau, lautsprecherverstärkter Gebetsruf] nicht auf den Bereich religionsrechtlicher Fragen einhegen lassen (Häberle/Hattler). Im Feld Öffentlichkeit treten Fragen der Medialisierung in den Vordergrund; fake news und alternative facts dienen insbesondere in den sozialen Medien gleichermaßen antiislamischer (Shoomann) wie islamistischer Mobilisierung (el-Difraoui).

3. Bei aller Fokussierung auf die diskursive Dimension von Deutungsmacht sind vornehmlich im Feld der Öffentlichkeit nicht-diskursive Formen nicht zu vernachlässigen, so etwa nichtsprachliche Repräsentationen des Ästhetischen [Kleidung; Gebäude; Gestik...(Gerlach)]. Deutungsmacht kann sich dabei auf Mikro-Ebenen materialisieren – beispielsweise in der filigranen Diskussion um Termini [„Islamismus“ etc.], bei der weit mehr im Spiel ist als der Streit um die „richtige“ Definition – und doch zugleich für Makro-Ebenen von eminenter Relevanz sein – so etwa für Fragen nach der gesellschaftlichen Prägekraft islamfeindlicher/islamverherrlichender) Dispositive (Schmitz/Işik).

4. Ganz grundsätzlich ist zu fragen, wie „der Islam“ insbesondere hinsichtlich seiner jüngsten Dynamisierungsprozesse von den Deutenden wahrgenommen wird [emisch/etisch] und welcher Impetus sich mit entsprechenden Deutungen jeweils verbindet (Sahin; Spenlen). Bei der Analyse selbst muss zwischen vornehmlich textbezogenen [philologisch, historisch] oder stärker feldforschungsorientierten [ethnologisch, Area Studies] Zugängen differenziert werden. Auch ist zwischen den Ebenen praktischen Engagements und theoretischer Interpretation zu unterscheiden sowie zu berücksichtigen, dass bestimmten Diskursen durch politische oder juristische Vollzüge bisweilen quasi apriorische Geltung zugeschrieben wird – so etwa durch religionsrechtliche Bestimmungen oder integrationspolitische Maßnahmen (Arens). Die aus konkurrierenden Regimen erwachsenden Ansprüche auf Deutungshoheit kommen nicht nur im Streit über konzeptionelle Nomenklaturen zum Ausdruck [z.B. „Islamophobie“/„Islamkritik“; „Islamismus“/„politischer Islam“], sondern finden auch in divergierenden Wissensformatierungen ihren Niederschlag (Frindte/Dietrich), denen durchaus eine institutionenpolitische Dynamik innewohnt [Aufstieg sozial- und politikwissenschaftlicher Islamforschung auf Kosten „traditioneller“ Islamwissenschaft? (Dakhli)]. Diesbezüglich ist danach zu fragen, ob es gelingt, auf einer Ebene jenseits positionell-binnendisziplinär verankerter Diskurse einen Bereich zu identifizieren, auf dem übergreifende Deutungen verhandelbar werden und der somit als gemeinsames transdisziplinäres Deutungsfeld in den Blick kommen könnte (Antes/Celan).

5. Darüber hinaus wird eine weitergehende Aufgabe darin bestehen, kreative Strategien des Umgangs mit Ausprägungen von Wissenskulturen zu entwickeln, die zunächst nur als hermetisch konfigurierte Formationen von Deutungsmacht in den Blick kommen (Liedhegener/Pickel). Das wären z.B. auf der einen Seite einem „Offenbarungspositivismus“ entspringende fundamental-religiöse Argumentations- und Begründungsfiguren, auf der anderen Seite absolut gestellte, auf fundamental-säkularistischen belief systems beruhende nicht- oder anti-religiöse Neutralitäts- und „Normalitäts“-Postulate, aus denen jeweils unmittelbar axiomatisch Deutungsmacht abgeleitet wird.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Verbände, Staat und „rechte Lehre“. Der Konflikt um Mouhanad Khorchide aus deutungsmachttheoretischer Perspektive.
2. Radikalisierter Islam oder islamisierte Radikalität? Deutungsmacht und ihre Aporien am Beispiel der Debatte zwischen Olivier Roy und Gilles Kepel.
3. Un/Angefochtene Islam-Expertise, oder: das Ende der „Islamwissenschaft“? Deutungsmachtkonflikte zwischen Forschungstraditionen und Fachdisziplinen.

 

Thomas Klie

Thomas Klie

Katastrophen deuten. „Riskante Liturgien“ und ihre öffentliche Repräsentation

Die Amokläufe von Erfurt und Winnenden, der Absturz der Germanwings-Maschine, der Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt – all dieser die deutsche Öffentlichkeit traumatisierenden Unglücke wurde zeitnah in großen ökumenischen Trauergottesdiensten gedacht. Der Trauergottesdienst 2002 auf dem Erfurter Domplatz war der bis dato größte Trauergottesdienst der deutschen Nachkriegsgeschichte. In den Predigten und Reden hoher staatlicher und kirchlicher Repräsentanten werden hierbei neben persuasiven Motiven immer auch Deutungen der jeweiligen Katastrophe aufgerufen, die qua Amtsgewalt der Protagonisten bzw. durch die mediale Verbreitung auch wirkmächtig Geltung beanspruchen. Ostinat ist die Rede von „Opfern“, von „Schicksalsschlag“ oder „Tragödie“; im inszenatorischen Kontext „riskanter Liturgien“ können alle Personen, die hier zu Wort kommen, nicht nicht deuten.

Solche Staat-Kirche-Gedenkfeiern fordern nicht zuletzt auch eine theologische Deutung dessen ein, was hier der Fall war. Die beiden großen Kirchen sind aus Anlass von solchen Ausnahmesituationen einer breiten und in doppeltem Sinne „betroffenen“ Öffentlichkeit verständliche Interpretationen des katastrophischen Kasus schuldig. Jede Liturgie ist riskant, insofern sie das Evangelium vor und mit anderen anderen kommuniziert und damit öffentlich aufs Spiel setzt. Sie misslingt, wo sie – möglicherweise massenmedial höchst eindrucksvoll – die sozialen und situativen Belange verkennt. Dies gilt in besonderem Maße für die hier in den Blick genommenen Gedenkfeiern. Denn „Riskante Liturgien“ sind eingebettet in eine überaus plurale und damit auch prekäre Rezeptionssituation. In ihrem je spezifischen Inszenierungsmodus und ihrem zeitgeschichtlich kontingenten Wahrnehmungshorizont bleibt für alle Beteiligten letztlich ungewiss, ob bzw. inwiefern sie Plausibilität erzeugen. Je diffuser die öffentlichen Gefühlsregungen und je dichter das Netz einschnappender Reflexe, die von den Medien oft schon kurze Zeit nach der Katastrophe bedient werden, desto mehr verlangt das (vorläufige) Deutungsartefakt eine stilsichere, prägnante und kontextsensible Ausdruckshandlung.

Religion ist in solchen Trauerfeiern eben genau keine „Privatsache“, bringt sie doch in liturgisch-rhetorischen Formen die Belange eines Gemeinwesens zum Ausdruck. In liturgiewissenschaftlicher Hinsicht ist hierbei konstitutiv, dass Deutungssemantiken dabei immer auch in das weite Feld der Gestik (Gebete, Haltung, Kniefall), Ästhetik (Gesang, Requisiten, auratische Räumlichkeit) und symbolischen Artefakte (Kerzen, Gewänder, Prinzipalstücke) hineinspielen. Wer modo religioso deutet, weist auf etwas hin, führt anderen etwas vor Augen bzw. macht etwas im Modus des Hinzeigens ausdrücklich. So gilt für die Liturgie wie für den weltlichen Teil der Trauerfeier, dass die generierten Deutungen auch und gerade Akte des Zeigens umfassen (eine Kerze für den Täter?). Lexis und Deixis korrelieren aufs engste, wenn die Darstellung von etwas als etwas öffentliche Anerkennung beansprucht. Darüber hinaus intensiviert die Imposanz der zeitgleichen medialen Übertragung (Hörfunk/TV/Internet) den hierarchisch abgesicherten Anspruch auf die höchstinstanzliche Kommentierung des Geschehens (z.B. durch Bischöfe, Kanzlerin, Präsidenten).

Die Performanz liturgischer Ausdruckshandlungen ist eine Form von Deutung, ihr öffentlichkeitswirksamer Anspruch ist demgegenüber eine Erscheinungsform von Deutungsmacht. Durch die Rezeption der verschiedenen Performanztheorien in Theologie, Sozial- und Kulturwissenschaften werden wortsprachliche Äußerungen aus der Abhängigkeit befreit, auf Welt lediglich konstativ zu referieren; sie werden vielmehr als eine wirkende Kraft anerkannt, die als situiertes Ereignis in ein Geschehen eingreift und es zu transformieren vermag. Der universalpragmatische Anspruch wird gewissermaßen in eine universaltheatralische Betrachtungsweise moduliert. Katastrophen sind Ereignisse, in denen eine Gesellschaft an die Grenzen gesicherten Lebens stößt. Sozialität intendiert gesicherte Verhältnisse. Wo sie aufbrechen, ist das Gemeinwesen verstört und entsetzt. Denn die spätmoderne Lebenswelt beruht auf dem impliziten Versprechen von Sicherheit, und damit befördert sie Erwartungen, an denen sie permanent gemessen wird.

Im Unglücks- oder Katastrophenfall tritt jedoch deutlich zutage, dass das Gemeinwesen dem Einzelnen etwas zu gewähren vorgibt, was es de facto gar nicht gewährleisten kann. Gesellschaftliches Leben ist riskant, denn es fordert etwas, was wir uns angewöhnt haben, „Opfer“ zu nennen. Diese Erfahrung verunsichert umso tiefer, wenn die Kontingenzen besonders schroff zutage treten: eine tödliche Flutwelle im Urlaubsparadies, der Soldatentod in Friedenszeiten, der Gewalttod von Ungeschützten, der Flugzeugabsturz beim Schulausflug. Liturgie nimmt hier ein öffentliches Amt wahr, und sie realisiert dies in einem Kräftefeld verschiedener Akteure. Weil die Amokläufe, in denen Schüler und Lehrpersonen getötet wurden, auch ein Anschlag auf die Schule und das schulische Leben darstellen, agieren Schulleitende mit. Und weil das Gemeinwesen als Ganzes berührt ist und in Verantwortung steht sich zum Kasus zu verhalten, sind dessen politische Repräsentanten anwesend und bringen in Gedenkreden ihre Deutungen zum Ausdruck.

„Riskante Liturgien“ verbinden einen Gottesdienst mit einem Staatsakt, sie werden jeweils kooperativ ausgehandelt. Diese ergebnisoffenen Aushandlungsprozesse folgen in der Regel repräsentativen Logiken. Auf der Ebene der Partizipation (und Exklusion) geht es hierbei auch um Machtfragen, um Deutungsmacht. In welcher Reihenfolge treten die Protagonisten auf? Wer darf, wer muss reden? Erfolgt der säkulare Part vor dem Gottesdienst (wie in Erfurt) oder gerade umgekehrt (wie in Winnenden)? Oder vermengt man beide Verläufe zu einem integralen Gesamtkunstwerk (wie bei der Germanwings-Gedenkfeier im Kölner Dom)? In jedem Fall verschränken sich hierbei die verschiedenen Deutungsakte und stoßen konflikthaft aneinander. Was ist politisch gesagt, was ist kirchlich gemeint, wenn vom „Schuld“ gesprochen wird? Worin besteht die Macht des Wortes? Was ermächtigt Rede und Ritus? Was autorisiert das Zeigen? Wer ist das „Wir“ im Gebet der Bischöfin bzw. das „Wir“ in der Ansprache des Innenministers bzw. Bundespräsidenten?

Die Addition differenter Deutungs- und Machtsphären spiegelt die religionskulturellen Verhältnisse in Deutschland wider, in der das bikonfessionelle Christentum öffentliche Religion im säkularen Staat stellvertretend repräsentiert.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Die rhetorischen Argumentationsfiguren in öffentlichen Gedenkreden aus Anlass „riskanter Liturgien“;
2. Ritus und Rede. Das Verhältnis von Lexis und Deixis in „riskanten Liturgien“;
3. Die Deutung katastrophischer Kasus als Ausdruck von Deutungsmacht.

Martina Kumlehn

Martina Kumlehn

Narration und Rhetorik im Kontext deutungsmachtsensibler religiöser Bildung

„Deutung“ gehört zu den Grundbegriffen religions- und kulturhermeneutisch ausgerichteter Praktischer Theologie und Religionspädagogik (z.B. Gräb 1998 und 2006). Zugleich ist der Deutungsbegriff im Kontext der Kompetenzorientierung religiöser Bildung verankert, die die Ausbildung von Deutungskompetenz neben Partizipationskompetenz ins Zentrum stellt (Benner/Schieder/Schluß (Hg.) 2011). Allerdings werden machttheoretische Aspekte bzw. Bezüge zur Problematik der Deutungsmacht im Kontext religiöser Bildung bisher gar nicht oder lediglich marginal wahrgenommen. Die erziehungswissenschaftlichen Debatten um eine kritische Foucault-Rezeption (z.B. Bünger/Mayer/Messerschmidt/Zizelsberger (Hg). 2009, Pongratz/Wimmer/Nieke/Masschelein (Hg.) 2004) haben in der Religionspädagogik erstaunlicherweise kaum Resonanz gefunden.

Interessante mögliche Anschlussstellen finden sich jedoch jüngst im religionspädagogischen Diskurs um Empowerment-Strategien, die mit Ermächtigungsdynamiken im Sinne der Erweiterung personaler Möglichkeitsräume verbunden sind (Bucher/Domsgen 2016). Hier wird der Kraft- oder Machtbegriff durchaus in Anspruch genommen, selbst jedoch weder problematisiert noch zu Aspekten von Deutungsmacht ins Verhältnis gesetzt. Das folgende Projekt setzt genau an dieser Leerstelle an, indem die Dimensionen der Deutungsmachtanalyse auf den Umgang mit Narrationen und Rhetorik in religiösen Bildungsprozessen bezogen werden sollen, um sowohl Lehrende als auch Lernende zu befähigen, Dimensionen akteursbezogener, institutioneller, modaler und relationaler Macht in die hermeneutische Erschließung und kritische Reflexion religiöser Traditionen zu integrieren. Es gilt, die Deutungsmacht von Erzählungen und rhetorischen Strategien in religiöser Rede und dem Reden über Religion sowohl in ihrem konstruktiven Potential zu heben als auch im Sinne der Deutungsmachtkritik zu problematisieren (Kumlehn 2014 und 2017).

Religiöse Bildung ist genuin auf das Verstehen der Symbolik, der Metaphorizität und Narrativität biblischer Texte und anderer Erzähltraditionen bezogen, die mit den Lebensgeschichten und Selbsterzählungen erfahrungsbezogen und kritisch-reflexiv ins Verhältnis zu setzen sind. Allerdings ist religionspädagogisch zunächst die Methodik des Erzählens fokussiert worden, bevor das Gespräch mit der Literaturwissenschaft in den Blick kam (Jens/Küng/Kuschel 1986, Langenhorst 2005). Erst seit einigen Jahren erfolgt darüber hinaus die Rezeption der Diskurse zur Narratologie (Ricoeur 1988-1991, Koschorke 42017) und zur narrativen Identität (Straub/Renn (Hg.) 2002, Thomä 1998) im Kontext von ästhetischen und semiotisch-performativen Ansätzen (Schulz/Malter 2006, Kumlehn 2012) und kindertheologischer oder konstruktivistischer Religionspädagogik (Zimmermann 2013, Büttner/Mendl/Reis/Roose 2016).

Die modale Macht der Fiktionalität, Wirklichkeit neu sehen zu lassen und Möglichkeitsräume veränderten Selbst- und Weltverstehens zu eröffnen – kurz: Laboratorium der Existenz zu sein – wird in ihrer Bedeutung für die Intentionen und Funktionen religiöser Rede herausgearbeitet. Gerade in einem weitgehend konfessionslosen Umfeld stellt die elementare Funktion des Erzählens einen besonderen Resonanzraum für den Aufweis möglicher existentieller Relevanz der zu erschließenden Inhalte dar. Diese Zugänge gewinnen jedoch unter der Aufnahme der Deutungsmachtperspektive erheblich an Tiefenschärfe. Die narrativen Strategien zur Kommunikation von Wahrheits- und Geltungsansprüchen, zur Ermächtigung der eigenen Stimme und zur Entmächtigung von Gegenpositionen, aber auch die narrativen Invisibilisierungstrategien der jeweiligen Deutungsmachtansprüche, die Figuren der narrativen Umdeutung von Macht und Ohnmacht (Passionserzählungen, Paulus) werden mit dem Analyseinstrumentarium der Deutungsmachtperspektive prägnant rekonstruierbar, so dass auch die Zielstellungen religiöser Bildung im Verstehen der besonderen Kommunikationsmodi religiöser Rede präziser und differenzierter benannt werden können.

Aufgrund der aktuellen Brisanz muss dabei das Spannungsfeld von fact, fake und fiction beachtet werden bzw. die Abgrenzung von lebensdienlicher Erschließung fiktionaler Welten und dem Feld der Lüge sehr viel sorgfältiger erfolgen als bisher. Da Deutung immer mit einem Deutungshorizont, einer Perspektive und einem Standort verbunden ist, und sich der religiös deutende Weltzugang diesbezüglich wesentlich von anderen Referenzmodi und Rationalitätsmustern unterscheidet, ist zugleich angezeigt, dass religiöse Bildung mit der Kompetenz des Perspektivenwechsels und einer grundlegenden Differenzkompetenz verknüpft sein muss, die auch für den Umgang mit Deutungsmachtkonflikten notwendig ist.

Interessanterweise greifen neueste Modelle interreligiösen Lernens explizit auf die Bedeutung narrativer Vermittlung zurück (Zimmermann 2015, Gellner/Langenhorst 2013). Narrativität ist ein Performanzphänomen religiöser Rede, ja Erzählen kann selbst als ein rhetorisches Element oder gar im Sinne eines Argumentes gebraucht werden. Die Topik bestimmt die rhetorischen Passagen, die in Erzähltexte eingelassen sein können (vgl. z.B. die Paulus-Reden in der Apostelgeschichte).

Damit ist der Übergang zum zweiten Schwerpunkt des Projektes gekennzeichnet, der die deutungsmachtsensible Analyse religiöser Rede und des Redens über Religion im Religionsunterricht mit in den Blick nimmt. Dazu gehört eine Wiederentdeckung der Rhetorik als einer vollkommen vergessenen Bezugstheorie der Religionspädagogik, die sich mit Fragen der Evidenz (Lethen/Jäger/Koschorke (Hg.) 2015), der Überzeugung und der bewussten Verwendung von rhetorischen Elementen beschäftigt. Dabei ist auch in einer rhetorisch versierten Religionsdidaktik das Ziel der Beförderung von Emanzipation und Mündigkeit vorrangig: „Rhetorik war von Beginn an der Ausgang des Menschen aus gesellschaftlicher Sprachlosigkeit, und der rhetorische Imperativ lautet: Perorare aude – Habe Mut, dich deiner eigenen Ausdrucksfähigkeit offen zu bedienen.“ (Knabe 2000, 47) Dieses Ziel kann jedoch nur mit Hilfe einer Dialogrhetorik (Ueding 2014) erreicht werden, in der die Oratorrollen – eben auch zwischen Lehrenden und Lernenden – wechseln und alle Redner auf Kooperation und Verständigung setzen, ohne dass Einverständnis das einzig denkbare Ziel sein muss.

Vielmehr ist einzukalkulieren, dass nach dem Austausch und dem bewussten Umgang mit Deutungs(macht)konflikten begründeter Dissens bestehen bleibt (Vgl. das Forschungsprogramm: Der Konfliktfall erscheint als der Normalfall). Dies auszuhalten, wird von einer grundsätzlich epistemologisch bescheidenen und grenzbewussten Rhetorik befördert, die immer darum weiß, dass andere Perspektiven und Alternativen der Meinungsbildung möglich sind. Eine neue Sensibilität für rhetorische Prozesse wird aber zugleich auch das Element von Deutungsmachtkritik und Ideologiekritik im Sinne einer mündigen religiösen Bildung stärken, ein Element, das im Kontext von öffentlich in Rede und Gegenrede ausgetragenen Deutungsmachtkonflikten in und um Religion an Bedeutung zunehmen wird.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Deutungsmachtsensible narrative Bibeldidaktik
2. Deutungsmachtanalytische Studien zu rhetorischen Strategien in Kommunikationsprozessen im Religionsunterricht
3. Rhetorik als Bezugstheorie einer deutungsmachtsensiblen Religionspädagogik

Gesche Linde

Gesche Linde

Deutungsmacht und semiotische Interpretationstheorie

Zusammenfassung: Entfaltung eines Begriffs von Deutungsmacht sowie Entwicklung einer Heuristik für die Ausübung von Deutungsmacht auf Grundlage einer semiotischen Interpretationstheorie, wie sie sich auf der Basis des von dem US-amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce ab 1905 entworfenen, jedoch unerläutert gebliebenen zehntrichotomischen Zeichenklassifikationssystems entwickeln lässt.

Erläuterung: Unter 'Deutung' wird hier Interpretation verstanden. Unter 'Interpretation' werden mit Peirce alle Prozesse subsumiert, in denen eine erste Größe, genannt 'Zeichen', auf eine zweite, von dieser unterschiedene Größe, genannt 'Objekt', so bezogen wird, dass daraus eine dritte Größe, das Interpretationsresultat, genannt 'Interpretant', entsteht, bzw. alle Prozesse, die dazu führen, dass ein Medium, der 'Interpretant', eine Größe als 'Zeichen' (im weitesten Sinne des Wortes) einer anderen Größe, des 'Objekts', repräsentiert. Die Leistung des Zeichenklassifikationssystems, das Peirce nach zwei Vorstufen 1905 entworfen hat, besteht darin, dass es aufgrund von Subunterscheidungen des Objekts und des Interpretanten eine Vielzahl an Differenzierungen von Interpretationsprozessen erlaubt und damit zugleich ermöglicht, disparat erscheinende Interpretationsprozesse wie Fühlen, Wollen/Entscheiden, Handeln, das Bilden von Begriffen, das Fällen von Urteilen und das Heranziehen von Begründungen innerhalb ein und desselben theoretischen Rahmens zueinander ins Verhältnis zu setzen und diese als je unterschiedlich komplexe Fälle derselben Grundstruktur aufzufassen.

Ziel: Unter Ausübung von Deutungsmacht wird hier die Beeinflussung, Steuerung oder Manipulation von Interpretationsprozessen bzw. die erfolgreiche Intervention in Interpretationsprozesse verstanden, im Zuge derer einer bestimmten Interpretation bzw. einem bestimmten Interpretanten im Unterschied zu anderen möglichen Interpretationen bzw. anderen möglichen Interpretanten Geltung verschafft wird. Deutungsmacht ist demnach (a) ein soziales bzw. kommunikatives Phänomen; sie spielt sich (b) zwischen einer machtentfaltenden Instanz (die nicht notwendigerweise personal verfasst sein muss) und einem interpretierenden Selbst ab; sie muss sich (c) gegen Widerstände (nämlich den Eigensinn des interpretierenden Selbst) durchsetzen; und sie manifestiert sich (d) in Gestalt ihrer Folgen, indem sie auf die Formation von Interpretanten einwirkt: Sie verändert Fühlen (unmittelbare Interpretanten), Wollen und Handeln (dynamische Interpretanten) sowie Denken (normale Interpretanten); sie lenkt diese in andere Bahnen, als es ohne ihre Entfaltung – etwa 'von selbst' – der Fall gewesen wäre. Aus dieser Perspektive stellt die Frage nach Deutungsmacht sich als Frage nach den Mechanismen, die im Zuge einer solchen Beeinflussung, Steuerung, Manipulation oder Intervention Anwendung finden. Diese Mechanismen können identifiziert werden, indem die (insgesamt zehn) semiotischen Funktionsstellen des ausdifferenzierten Peirceschen Zeichenklassifikationssystem von 1905 auf die Möglichkeiten einer solchen Intervention hin überprüft werden.

(Dabei gilt, dass a) die Interventionsmöglichkeiten an der Funktionsstelle des Zeichens ausgedehnter sind als die an der Funktionsstelle des Objekts und diese wiederum ausgedehnter als die an der Funktionsstelle des Interpretanten, b) dass im Blick auf das Objekt die Interventionsmöglichkeiten an der Funktionsstelle des unmittelbaren Objekts ausgedehnter sind als die an der Funktionsstelle des genuinen Objekts, c) dass im Blick auf den Interpretanten die Interventionsmöglichkeiten an der Funktionsstelle des unmittelbaren Interpretanten ausgedehnter sind als die an den Funktionsstellen des genuinen und des normalen Interpretanten.)

Auf dieser Basis ist es erstens möglich, eine Heuristik für die Ausübung von Deutungsmacht zu entwickeln, die sich auf sehr disparate Bereiche (beispielsweise Werbung, Persuasive Robotics, Nudging, Bildberichterstattung bzw. Bildpolitik, politische Propaganda, Massenkultur etc.) anwenden ließe, nicht zuletzt aber auch auf theologiegeschichtlich relevante Fälle wie etwa das Darmstädter Wort, das sich einem sowohl intensiven als auch von unterschiedlichen Interessen gesteuerten und anhand der Protokolle nachvollziehbaren Diskussionsprozess verdankt. Zweitens ist es möglich, Grenzen der Deutungsmacht zu bestimmen und schließlich eine ästhetisch, ethisch sowie im engeren Sinne semiotisch fundierte Deutungsmachtkritik vorzutragen.

Ausführliche und mit Beispielen sowie einer Vielzahl von Literaturbelegen versehene Version dieses Teilantrags unter: http://www.theologie.uni-rostock.de/fachgebiete/systematische-theologie/prof-dr-gesche-linde/, Stichwort „Mitgliedschaften“, dort “Graduiertenkolleg 'Deutungsmacht' - Teilprojekt G. Linde“.

Mögliche Dissertationsthemen
1. Peirces Begriff des Interpretanten
2. Semiotische Strategien machtförmiger Intervention in Interpretationsprozese
3. Das Darmstädter Wort im Konflikt von Interpretationsinteressen

Gesa Mackenthun

Gesa Mackenthun

Deutungsmachtkonflikte in kolonialen und transkulturellen Kontaktzonen Nordamerikas

Der Kulturkontakt zwischen indigenen und kolonisierenden Gesellschaften in Nordamerika war und ist geprägt von starken Machtasymmetrien (Pratt), was seine Analyse mit Hilfe des kritischen Instrumentariums des Kollegs herausfordert. Während die Machtsituation vor Ort zunächst stark performativer Natur war (Kämpfe, Abschluss von Verträgen), dominierte in der Zeit nach der Beendigung der sog. Indianerkriege die einseitige Ausübung instrumenteller und epistemischer Hegemonie durch die Kolonialmächte USA und Canada.

Stellvertretend für die umfassenden Dekulturations- und Assimilationsprozesse widmet sich ein Teil des Projekts der massiven Umerziehungspolitik der indigenen Bevölkerungen seit ca. 1900 (bis in die 1970er Jahre) sowie den juristischen Kontroversen um die Kontrolle des Landes. Seit dem Wiederaufleben indianischer politischer Selbstbestimmung und kultureller Präsenz aufgrund der multikulturellen Liberalisierung der nordamerikanischen Gesellschaften, insbesondere auch des Bildungssystems, rückt die narrative und performative Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit ins Zentrum. Erst in jüngster Zeit wird ein dialogischer Zugang zur nachträglichen Deutung erlittenen Leids möglich; erst jetzt beginnt das einseitige Narrativ der Eroberer (mit seinen mythischen Konstruktionen u.a. von der Unerziehbarkeit und der Naturverbundenheit von „Wilden“) durch den Widerspruch der Kolonisierten aufzubrechen.

Während konfligierende Deutungen und Interessen lediglich Spuren in kolonialen Quellen hinterlassen haben (Mackenthun 2017), verfügen wir nun über eine wachsende Anzahl indigener kultureller Texte (Autobiographien, Literatur, Filme), die die Deutungsmachtkonflikte in ihrem ganzen Ausmaß illustrieren und den transkulturellen Diskurs erzählend mitgestalten. Der Schwerpunkt untersucht zwei Teilbereiche des größeren diskursiven Feldes indianischeuroamerikanischer und eurokanadischer Deutungsmachtkonflikte:

1. Die Aufarbeitung der Geschichte der systematischen Umerziehung (assimilation, reeducation): hier sollen einerseits die kolonialen Instrumente der Erlangung und Aufrechterhaltung von Deutungsmacht genauer untersucht werden (insbes. military colleges, christliche boarding schools und residential schools, Zwangsadoptionen und deren Legitimationsideologien) und andererseits die Anstrengungen, insbesondere in Canada, zur Wiedergutmachung historischen Unrechts. Erst in den vergangenen 20 Jahren beginnen die ‚Umerzogenen‘ das ganze Ausmaß der ihnen aufgezwungenen Welt- und Geschichtsdeutung zu reflektieren und zu dokumentieren, insbesondere auch diejenigen Aspekte, die vorher aufgrund von Trauma und Scham nicht ausgesprochen werden konnten (Churchill, Mackenthun 2014). In Canada arbeitete von 2009 bis 2015 eine transkulturelle Truth and Reconciliation Commission (TRC) an der Aufarbeitung historischen Unrechts in den Residential Schools (Regan); ihre Berichte liegen nunmehr vor (Sinclair). Die umfangreichen Dokumentationen und Berichte der TRC sowie verschiedene Vorstudien, z.B. der Aboriginal Healing Foundation, bilden ein hochinteressantes Untersuchungskorpus, das nun der Analyse harrt, sowohl in nationaler als auch internationaler Perspektive. Eine Analyse des Materials aus Deutungsmachtperspektive wäre in mehrfacher Hinsicht wünschenswert: Sie würde das dynamische Zusammenspiel von Machtsituationen und Hermeneutik durch verschiedene Akteure und in verschiedenen lokalen Konstellationen untersuchen; sie könnte die Transformation von Deutungsmachtformationen untersuchen, die sich insbesondere am Phänomen des Sagbaren festmachen ließe (nach Bourdieu und Stoler); und sie könnte die zu beobachtende Phase der Latenz, des langsamen Zur-Sprache-Kommens zwischen den 1980er und frühen 2000er Jahren, genauer in den Blick nehmen: welche Faktoren begünstigen die (Nicht-)Artikulation traumatischer Erlebnisse; welche Faktoren wirken ihr entgegen? Welche Relevanz haben dekolonisierende Gesten und Gesetze seitens der jeweiligen Staaten für die Artikulierbarkeit schamvoller Erfahrungen? Usw. Neben den offiziellen Dokumentationen der Aufarbeitungskommissionen wären auch kulturelle Produkte in die Analyse einzubeziehen, die in wachsender Zahl erscheinen: Literatur, Filme, Lieder, bildende Kunst, künstlerische Inszenierungen. Dabei wären beide zentralen Begriffe – „truth“ und „reconciliation“ – kritisch zu hinterfragen: Welche epistemologischen und auch ethischen Probleme ergeben sich aus einer Deutungsmachtanalyse der in den Dokumenten erzeugten Sichtweisen auf „Wahrheit“? Welche Antworten kann ein deiktisch verstandener Deutungsmachtbegriff auf die Frage nach der Bedeutung von „reconciliation“ liefern, z.B. indem er die Bedeutung des „and“ beleuchtet, das u.a. kausal, additiv oder chronologisch gemeint sein kann? Wann, wo und wie gerinnen die gewonnenen individuellen „Wahrheitsfindungen“ zu einem kollektiven und kanonischen Wahrheitsnarrativ, das erneut Deutungshegemonie für sich beansprucht und differierende Erzählungen als deviant exkludiert? Ist „reconciliation“ ein zu erreichender oder bereits erreichter Status oder ein fortwährender Prozess?

2. Das Auftreten konkurrierender Verständnisse von Land und Umwelt im juristischen Diskurs in den USA und Canada, insbesondere im Zusammenhang mit Gerichtsprozessen. Wie aktuell am Beispiel der Konflikte um Pipelines in North Dakota und Canada zu sehen, verbünden sich indigene Deutungen von Land und land stewardship mit ökologischen Ansätzen verschiedener Couleur (anthropozentrische, biozentrische; siehe Porter). Während die Konflikte Eingang in Literatur und Film gefunden haben (Silko, Hogan, Erdrich; Thunderheart), ist der Rechtsdiskurs in beiden Ländern reich an z.T. literarisch wertvollen Dokumenten, die die radikal unterschiedlichen Deutungen von Land und Umwelt belegen und die performative Aus-handlung von Deutungskonflikten vor Gericht illustrieren (Echo-Hawk; Duthu, Brown). Zu fragen wäre u.a., auf welcher epistemischen Grundlage die strategischen Allianzen zwischen indigenen Protesten und den verschiedenen Umweltbewegungen gegen die kapitalistische Verwertung des Landes beruhen. Vor Gericht und in der Öffentlichkeit treten diese oft konsensual auf; intern können aber Deutungsdifferenzen für Spannungen sorgen. Hier ist immer wieder eine hochinteressante Zirkulation von Sichtweisen, Theorien und Lösungsvorschlägen innerhalb eines als transkulturell zu begreifenden sozialen Feldes zu beobachten (Ortiz). Im Zentrum kolonialer (Deutungs-)Konflikte um Land steht die philosophische Verortung des Landes als „heilig“ in den indigenen Kulturen – ein Gedanke, der längst Eingang in die nichtindianische ökokritische Literatur gefunden hat, dort aber oftmals anders konnotiert ist. Zu untersuchen wäre, wie der Begriff des „Heiligen“ im jeweiligen Fall begründet und imaginiert wird.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Colonial Reeducation and Hermeneutic Conflict: Analyse ausgewählter Texte aus der umfangreichen Dokumentation in Canada zur Aufarbeitung kolonialer Residential Schools aus deutungsmachttheoretischer Perspektive (siehe http://nctr.ca/reports.php); insbesondere Analyse des narrativen und performativen Umgangs mit Trauma, Latenz und Nachträglichkeit in autobiographischen und künstlerischen Texten zu diesem Thema; Vergleich USA und Canada. Vergleich mit weiteren Ländern (u.A. Irland oder Australien) denkbar.
2. Sacred Land, Indigenous Ecology, and Hermeneutic Conflict: Analyse ausgewählter Rechtskonflikte um Landbesitz und vertraglich garantierte Rechte der Landnutzung in USA und Canada aus deutungsmachttheoretischer Perspektive; u.a. Bedeutung und Deutungsmacht von traditionellem ökologischem Wissen in diesem Kontext (traditional ecological knowledge; oral traditions); neben offiziellen Dokumenten auch literarische und andere künstlerische Verarbeitungen solcher Konflikte.

Stephanie Wodianka

Stephanie Wodianka

Zur Sichtbarkeit und Lautstärke von Deutungen: Chorale Stimme und Verschleierungspotential des Mythischen in Literatur und Film

An den Kreuzungspunkten individueller und kollektiver Überzeugungen sind (moderne) Mythen zu verorten. Sie sollen in diesem Teilprojekt als Belief systems, aber auch in ihrer Funktion für Belief systems untersucht werden. Belief systems sind eine kognitive Struktur, analysierbar werden sie nur in kulturellen Kristallisationsformen: in medialen Repräsentationen wie Bildern, Erzählungen und Performanzen, die in diversen (z.B. politischen, künstlerischen, medizinischen, theologischen) Diskursen wirksam sind.

Im Fokus des Teilprojekts stehen literarische und filmische Repräsentationen, die von mythischem Erzählen geprägt sind. Diese Einschränkung ist einerseits im Sinne einer Fokussierung der Arbeit sinnvoll, andererseits aber auch, weil Fiktionalität und (bildlich wie sprachlich erzeugte) Narrativität als Kulturpraktiken zu verstehen sind, die in besonderem Maße geeignet sind, beliefsteigernd zu wirken: durch ihr lenkende Stimme (Erzählinstanz) und ihre Lenkung von Sichtbarkeit (Fokalisierung), nehmen sie Einfluss auf unsere Weltsichten (Behrens; Genette; Erll/Wodianka).

Kennzeichnend für den Mythos als belief system ist, dass er eine bestimmte Erfahrungsweise der Wirklichkeit bewirkt – er ist ein subjektiver Wahrnehmungsmodus von kollektiver Bedeutung (Wodianka/Ebert 2014, 2016). Dem Mythos ist durch die mögliche Komprimierung der Narration zur Ikone dabei einerseits ein besonders enges Verhältnis zur Visualität eigen (z.B. der Student Cohn-Bendit vor einem Angehörigen der Sicherheitskräfte als Ikone der 68-er Bewegung, die Jeanne-d’Arc-Statue in Orléans und Jacques-Louis Davids Ölgemälde „Bonaparte franchissant le Grand-Saint-Bernard“).

Andererseits sind mythische Erzählungen aber auch als kulturelle Strategien zu verstehen, die Deutungen und Deutungsmachtkonflikte verschleiern und unsichtbar machen können. Werden Mythen zur Durchsetzung von Deutungen funktionalisiert, wird die Deutung als Deutung unsichtbar und erschein als evidente ‚Wahrheit‘. Mythen besitzen eine Deutungsmacht, die sich selbst verbirgt. Sie sind deshalb ein Untersuchungsfeld, auf dem die Bedeutung der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von Deutungen, Deutungskonflikten und von Deutungsmachtansprüchen exemplarisch untersucht werden kann.

In einem weiteren Sinne wird das Konzept des Belief systems im Teilprojekt produktiv für Analyse und Beschreibung moderner Mythen stehen nicht für sich allein, sondern sind auch untereinander synchron und diachron vernetzt. Diese Vernetzungen können auf affirmativen (z.B. Jeanne d’Arc / Résistance / Astérix), aber auch auf oppositionellen Relationen (z.B. Roi soleil / siècle des lumières) zueinander beruhen (Wodianka 2017). Die Vernetzung Mythen bewirkt – so die Hypothese des Teilprojektes – eine Stabilisierung der Mythen untereinander und trägt zur Festigung von Belief systems bei. Sie bewirkt die Entstehung von ‚Mythenclustern‘, die zur wechselseitigen Sichtbarmachung und Sichtbarhaltung beitragen und zudem die distributive Reichweite durch inter- und plurimediale Verweisstrukturen erhöhen.

Mythencluster sind somit einerseits intensive Austragungsorte von Deutungskonflikten, andererseits auch strategische Orte, durch deren Funktionalisierung Deutungsmachtansprüche besonders wirksam geltend gemacht werden können. Denn sie erzeugen eine „chorale Stimme“ des Mythischen (Wodianka 2016 und 2017), eine wechselseitige Beglaubigung des scheinbar Evidenten, die quasi-naturhafte ‚Wahrheitsansprüche‘ potenziert wahrnehmbar macht.

Die Deutungsmacht von Literatur und Film basiert grundsätzlich auf deren (mehr oder weniger sichtbar gemachter) Intermedialität und Intertextualität, und dieses Potential wird im Falle mythischer Repräsentation zugleich genutzt und gesteigert. So z.B. der Resnais-Klassiker „On connaît la chanson“, F 1997, der die modernen Mythen Französisches Chanson, Paris und Résistance verknüpft, dabei den Schauspielern zu deren Lippenbewegungen Original-Ausschnitte Chansons in den Mund legt und somit zugleich intermediale und intertextuelle Referenzen aufweist, die choral von der ‚francité‘ zeugen (Wodianka 2008).

Das Konzept der ‚choralen Stimme‘ des Mythischen rückt zudem zeitliche Tiefendimensionen von belief systems in den Blick: Zu fragen ist, inwiefern die Choralität der mythischen Stimme nicht nur synchron (etwa durch verschiedene vernetzte Mythen und durch plurimediale Netzwerke), sondern auch diachron intensiviert wird: Die „Tiefe“ von beliefs kann durch zeitliches Überdauern, Kontinuität und Wiederholung bedingt sein, und auch die historische Dynamik von belief systems (z.B, der Aufklärung als Mythos) ist mit ins Zentrum der Überlegungen zu stellen, wenn das Erkenntnisinteresse auf die ‚Mächtigkeit‘ oder ‚Ermächtigung‘ von (konfliktuösen) Deutungen zielt. Die durch exemplarische Einzeluntersuchungen zu belegende Hypothese ist, dass ‚Macht‘ von Deutungen kontextbezogen ist und sich sowohl und zugleich auf zeitliche Tiefe, distributive Weite oder chorale Intensität beziehen kann. Mythen vermögen als belief systems und in belief systems, diese Dimensionen zu korrelieren.

Mögliche Dissertationsthemen:
1. Encyclopädisches Schreiben und der Mythos des choralen Wissens bei Denis Diderot
2. Intertextualität und Mythenvernetzung: Islam und Aufklärung im Werk von Tahar Ben Jelloun
3. Das Verstummen der choralen Stimme der Aufklärung? Belief systems in den Dramen von Yasmina Réza