Nachfolgeantrag

Martina Kumlehn

Martina Kumlehn

Die grundlegende Forschungsfrage, die Erst- und Folgeantrag verbindet, bleibt: Wie entstehen, funktionieren und vergehen bestimmte Deutungsmachtformationen in Religion und belief systems und wie lassen sich entsprechende Deutungsmachtkonflikte analysieren? Wie zeigen sich in verschiedenen Deutungspraktiken intrinsisch verfasste semantische und kommunikative Machtstrukturen? Grundthese ist dabei, dass sich Deutungsmachtkonflikte überall da, wo Glaubens- und Überzeugungssysteme zur Dispositon stehen, mit besonderer Vehemenz entwickeln können. Religiöse Deutungen z.B. sind immer riskant und müssen mehr zu sagen wagen, als vor Augen liegt. Das kann unterschiedliche deutungsmächtige Strategien zur Folge haben, die z.B. mit besonderer Vehemenz den eigenen Geltungsanspruch in einer Behauptungskultur kommunizieren oder aber Strategien der Invisibilisierung ihrer Ansprüche betreiben, um das Legitimationsproblem zu unterlaufen.

In diesem Kontext sind im Kolleg auch theologische Deutungsmuster von Offenbarung und Inspiration, die Autorität heiliger Schriften und Konzepte von Prophetie (GÄRTNER), Rituale und liturgische Performanz (KLIE) sowie Formen von Inklusion und Exklusion/Exkommunikation in Religion und belief systems (HOCK, MACKENTHUN, BIZEUL) im Blick. Die Unentscheidbarkeit von Wahrheitsfragen im Kontext von unterschiedlichen Gewissheitserfahrungen in Religion und belief systems kann Deutungsmachtkonflikte in, zwischen und um Religionen sowie zwischen Religionen und anderen belief systems wie z.B. naturwissenschaftlichen, politischen oder gesellschaftlichen Grund-überzeugungen, die handlungsleitend wirken, befördern. Ausgehend von der Definitionsfrage „Was ist Deutungsmacht?“ wird in der Verschränkung von machtanalytischer Deutungstheorie und deutungstheoretischer Machtanalyse untersucht, aufgrund welcher Strategien sich Deutungen in diesen Kontexten als mächtig erweisen bzw. ihre Macht wieder verlieren.

Besondere Aufmerksamkeit ist dabei auf die kulturelle, mediale und kommunikative Verfasstheit der jeweiligen Deutungen zu richten. Wie wird z.B. in religiöser Rede Autorität erzeugt, welche Ermächtigungs- und Entmächtigungsprozesse mittels Deutungen sind dabei zu eruieren? In der ersten Förderperiode sind diesbezüglich die ambivalenten Konstellationen „Wortmacht – Machtwort“ (Stoellger/Kumlehn 2017) und „Bildmacht – Machtbild“ (Stoellger/Kumlehn, erscheint 2017) in den Blick genommen worden (vgl. Bericht). Grundfrage dabei war nicht nur, wer das Sagen in Sachen „Religion“ hat oder zu haben beansprucht – exemplarisch an Genese, Geltung und zunehmender In-Frage-Stellung des Säkularisierungsdiskurses rekonstruiert – sondern vor allem auch, wie sich modale Wort- und Bildmacht gegen vorrangig personal oder institutionell abgesicherte Machtworte durchsetzen können. Untersucht wurde auch, wie sich dabei die verschiedenen Medien – Sprache und Bild – hinsichtlich ihrer Ermöglichungs- oder Verunmöglichungspotentiale unterscheiden. Wie setzt sich visuelle Deutungsmacht gegen die Macht des Wortes durch (oder auch nicht)? Wie verstetigt sich fragile Deutungsmacht gerade im digitalen Kontext? Oder: Wie werden Beschleunigung und verringerte Aufmerksamkeitsökonomie selbst als Deutungsmachtfaktoren in den digitalen Medien funktionalisiert und strategisch eingesetzt?

Diese Zusammenhänge sollen in der zweiten Förderphase durch die neu zu besetzende Postdoc-Stelle zur Medien- und Wissenschaftsgeschichte prominent und zielführend weiter erforscht werden. Zugleich könnte die Postdoc-Stelle interessante mediale und historische Perspektiven in den anderen Projekten fokussieren und befördern, die dort sehr häufig inhärent mitgeführt werden, aber aufgrund der je eigenen Fachkompetenzen nur begrenzt selbst bearbeitet werden können. So käme es zu einer doppelten interdisziplinären Bereicherung des Kollegs durch den/die Postdoc im Bereich der Medien- und Wissenschaftsgeschichte. Zudem werden in der zweiten Förderphase aufgrund der aktuellen Herausforderungen verstärkt Deutungsmachtkonflikte mit Blick auf die liberale Demokratie, ihre Gefährdung durch den Populismus und seine belief systems (BIZEUL), das neue Ringen um Wahrheit und die Rolle der Vernunft im Zusammenhang der Rede vom „postfaktischen Zeitalter“ und fake news aufgenommen (HASTEDT, vgl. die Tagung „Deutungsmacht von Zeitdiagnosen“, Bericht). Deutungsmachtrelevante Interpretationsstrukturen und Interventionen, die dann für das Verstehen verschiedener Phänomene wie Nudging, Paternalismus oder big data einschlägig sein können, werden untersucht (LINDE, HASTEDT). Zudem sollen in der zweiten Förderperiode durch die neu entworfenen Projekte erstmalig Echo- und Resonanzräume von deutungsmächtigen Formationen in verschiedenen Medien gegenstandsbezogen erschlossen werden (WODIANKA, MACKENTHUN, Postdoc).

Parallel wird die begonnene Arbeit an deutungsmächtigen Narrationen in religiösen Traditionen und modernen belief systems weitergeführt und fokussiert (GÄRTNER; HOCK, WODIANKA, BIZEUL, DOSCH). Projekte zur Performanz und Rhetorik (KUMLEHN, KLIE) und zu deutungsmächtigen Interventionen in interreligiösen, interkulturellen und medialen Konfliktkonstellationen (LINDE, HOCK, MACKENTHUN) führen den Bezug von medialer Repräsentanz und Deutungsmacht weiter. Die in der zweiten Förderphase besonders avisierte Betonung von Deutungsmachtkritik und Strategien des Umgangs mit Deutungsmachtkonflikten werden in mehreren Forschungsschwerpunkten verfolgt (LINDE, HOCK, MACKENTHUN, HASTEDT UND KUMLEHN). In bewährter Weise werden im GRK empirische, historische und systematisch ausgerichtete Forschungsmethoden komplementär praktiziert und aufeinander bezogen. Medienanalyse soll methodisch durch die Postdoc-Stelle in verschiedenen Perspektiven spezifisch betrieben werden. Dabei wird im Grundlagenbereich die Rahmentheorie – z.B. in semiotischer Perspektive und in der mythentheoretisch fundierten Weiterentwicklung des belief systems-Begriffs – ausdifferenziert und an den Phänomenen erprobt. In der zweiten Förderperiode sollen dabei je nach medialer Ausrichtung bereichsspezifische Cluster von Deutungsmachtanalysekategorien entstehen. Auch in der zweiten Förderperiode bleibt das Projekt jedoch auf das Ensemble der theoretisch hochkomplexen und divergent bestimmten Grundbegriffe verwiesen, die miteinander zu verbinden sind. Deshalb soll im Folgenden der Forschungsstand des Kollegs zu den Diskursen um Deutungsmacht (mit unterschiedlicher Betonung von Deutung und Macht in der Deutungsmacht) sowie Religion und belief systems als Gegenstandsbereichen der Deutungsmachtanalyse strukturiert dargestellt werden, um im Ausgang davon die Vernetzung der weiterführenden Forschungsschwerpunkte und deren Innovationspotential in drei Clustern auszuweisen, bevor diese selbst mit den zugehörigen Dissertationsthemen vorgestellt werden.

 

  •  Deutung in Deutungsmachtperspektive

Deutung ist einerseits als operativer Grundbegriff allgegenwärtig, allerdings meist ohne eigens expliziert zu werden, was nach wie vor ein Desiderat der Theoriearbeit darstellt. In der Regel werden mit dem Deutungsbegriff in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Themen der hermeneutischen Tradition weitergeführt. Auch in systematisch-theologischer und praktisch-theologischer Hermeneutik ist Deutung inzwischen zum Grundbegriff avanciert (vgl. Lauster 2005, Korsch 2005, Stoellger 2014, Gräb 2006). In der ersten Förderperiode ist intensiv am Deutungsbegriff gearbeitet worden, insbesondere hinsichtlich der schwierigen und unterschiedlich denkbaren Abgrenzung bzw. Verhältnisbestimmung von vielfältigen Zeigepraktiken, lebensweltlicher Sinngebung bis zur ausgefeilten Interpretation, Argumentationsstrategie und Beweisführung. Zudem ist von der Deutung her in einem ersten Schritt zu entfalten, inwiefern und wie Deutung Macht impliziert. Dabei setzt das GRK in der zweiten Förderperiode folgende Bestimmungen voraus und erweitert sie mit neuen Schwerpunkten:

1) Deutungen generieren Bedeutung und konstruieren Phänomene der Wirklichkeit im Repräsentationsmodus, indem etwas als etwas gedeutet wird. Sie sind „bewusste, meist intentionale (also gerichtete …) Erschließungen von Teilen objektiver, subjektiver und fiktionaler Wirklichkeit“ (Hastedt 2016, 24) Deutungen sind lebensweltlich unhintergehbar. Sie können als Antwort, als Reaktion auf das verstanden werden, was uns widerfährt, begegnet, gegenübertritt. D.h., das andere der Deutung wird aufrechterhalten, es fordert heraus und ist widerständig, aber es ist uns eben nur in der Deutung zugänglich. Es ist nicht alles Deutung, aber ohne Deutung – und sei der Vorgang noch so elementar – ist für uns nichts von Bedeutung. Dabei ist ein wechselseitiges Verhältnis vorauszusetzen: vorgängige Erfahrungen beeinflussen Deutungen, aber Deutungen können auch allererst die Überführung von Erlebnissen in kommunizierbare Erfahrungen bzw. die Erneuerung oder Umcodierung von bisherigen Erfahrungen ermöglichen. Das ist in Bildungsprozessen höchst relevant, gerade auch in religiösen: Deutungsmuster prägen Erfahrungsmöglichkeiten und -welten, wenn diese sich erweitern, verändert sich auch die Möglichkeit der Weltbegehung.

In der zweiten Förderperiode soll aufgrund der aktuellen Herausforderungen im Kontext der Rede vom „postfaktischen Zeitalter“ noch intensiver im Spannungsfeld von „Deutung und Faktum“ (vgl. Bericht) gearbeitet werden. Bisher sind im Kolleg in einem Workshop dazu Grenzgänge im Verhältnis von Technik/Natur und Sozialem im Anschluss Bruno Latour versucht worden. Der Diskurs zwischen Theologie und Naturwissenschaften könnte diesbezüglich in der zweiten Förderperiode auf seine Deutungsmachtimplikationen hin befragt werden (vgl. z.B. Breitsameter/Tapp 2014) und dabei insbesondere die belief systems der Bio- und Neurowissenschaften mit ihren Deutungsmachtansprüchen berücksichtigt werden (Hüttemann 2008, Hasler 2012). Expertise könnte dazu von der an der Theologischen Fakultät am Lehrstuhl LINDE neu eingerichteten Juniorprofessur für Technikethik eingeholt und ins Gespräch des Kollegs eingebracht werden. Hinsichtlich des „Postfaktischen“, das ja zur Deutungsmacht des Faktischen in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis steht, spitzen sich jedoch die Fragen zu: Wie und warum erhalten fake news Deutungsmacht, selbst dann noch, wenn sie als solche entlarvt sind? Wie lassen sich unterschiedliche Referenzen in Deutungsmachtperspektive unterscheiden (z.B. ist das prekäre Verhältnis von fiktionalen Referenzmodi im gegenüber zur Lüge genauer zu bestimmen, KUMLEHN). Das ist vor allem im Kontext von Religion und belief systems hoch relevant, die unvermeidlich auf das Imaginäre und Fiktionale bezogen sind, weil sie sich nicht im Bereich der vermeintlichen Fakten bewegen und von daher auch auf die skizzierten Abgrenzungen angewiesen sind, um weder der Lesart zu folgen, nur das Faktische sei wahr, noch Fiktionalität mit Lüge zu verwechseln.

2) Deutungen können auf Deixis, auf ihren möglichen gestischen Modus des Zeigens/Hinweisens/Sehenlassens hin befragt werden. Im Erstantrag ist dieser phänomenologische und kulturtheoretische Zugang (Warburg 2012, Tomasello 2011) als Ausgangspunkt und Spezifikum des Deutens profiliert worden. (Ausführlich dazu Stoellger 2014, 433-440). Deuten erscheint dann als ursprünglich deiktisch, gestisch, mimisch, tonal, leiblich, kinästhetisch be-stimmte Weise des Zeigens, die etwas in bestimmter Weise sehen lassen will. Das Logo des Kollegs nimmt auf diese elementare Geste des Zeigens Bezug, die allerdings selbst ambivalent ist. Der als Zitat aus dem Altar von Matthias Grünewald stilisiert übernommene Zeigefinger signalisiert den Machtanspruch, auf etwas Wesentliches zu zeigen. Deutung in diesem Sinne des Hinweisens und Hindeutens dient der Lenkung der Wahrnehmung und Aufmerk-samkeit der Adressaten, die durch ihre Anerkennung der Deutung Macht verleihen. Gedeutet wird, um Relevanz zu setzen und Unterschiede zu machen. Aufmerksamkeitserregung wird hier als erster Machtanspruch und „Machteffekt“ (Waldenfels 2004) verstanden.

In phänomenologischer Perspektive spiegelt sich der deiktische Zugang in Fragen wie: Was zeigen Deutungen, was zeigen sie nicht? Was lassen sie sehen und was verdecken sie? Welche Perspektivenwechsel schlägt eine Deutung vor? In semiotischer Perspektive ist das Zeigen allerdings klar als abgegrenzte spezifische Deutungsleistung mit eigenen Zeichenkonstellationen zu begreifen, der von anderen Deutungsmodi zu unterscheiden ist.

3) Deutungen sind zeichenvermittelt – seien es Gesten, einfache Ausrufe, Töne, Musik, Bilder oder Sprache. Damit sind Deutungen immer auch in Ordnungsstrukturen eingebettet: Die Möglichkeiten unserer Wahrnehmung begrenzen unsere Deutungsmöglichkeiten und die Sprache mit ihrem überindividuellen Regelwerk tut das ebenso. Semiotisch gesprochen: Der Code oder die Enzyklopädie bestimmen unsere Kommunikation wesentlich mit. Der Komplexitätsgrad einer solchen regelhaften Einbettung kann dann bis zu ausgefeilten Interpretationsmethoden verschiedener wissenschaftlicher Weltzugänge reichen. Damit liegt ein graduelles Abstufungsmodell zugrunde. Deutung ist der Oberbegriff, der immer auf Prozesse der Auslegung von etwas bezogen ist, und in diesem Sinne – insbesondere auch in semiotischer Perspektive – durchaus mit Interpretation synonym verwendet werden kann.

Der Begriff hat jedoch offene Ränder und sichert vor allem, dass auch die lebensweltlichen Deutungsprozesse im Blick bleiben, die vorwissenschaftlich strukturiert sind. Deutung ist in unterschiedlicher Weise mit Sinnstiftung und Elementen des Verstehens verbunden und damit hermeneutisch grundiert, wobei Deuten und Verstehen nicht deckungsgleich sind. Beim Verstehen geht es um den Umgang mit den Deutungen, die selbst wieder Abgleichungs- und Einordnungsprozesse verlangen und damit in einen komplexen Deutungsprozess führen, semiotisch gesprochen in die unendliche Semiose der Zeichen- und Interpretantenbildung. Die Unabschließbarkeit dieses Prozesses steht für die Unvermeidbarkeit von Deutungskonflikten, denn Deutungen folgen nicht nur aufeinander, sondern stehen auch nebeneinander und verlangen nach Verhältnisbestimmungen.

4) Wer die Welt deutet, geht häufig ein Wagnis ein. Auslegungsprozesse sind zwar mehr oder weniger regelgeleitet, aber Deutungen sind daraus dennoch nicht einfach ableitbar, d.h., es braucht den Sprung ins Deuten und Verstehen, das kreative Element, das Neues hervor-bringt: Divination (Schleiermacher) oder Abduktion (Peirce, Eco), die Prozessen der Induktion und Deduktion vorausgehen. Dabei wird unter Umständen aber auch etwas riskiert, indem Ordnungen durchbrochen werden und man mehr zu sagen wagt, als methodisch einholbar oder abzusichern ist. In modaler Perspektive sind Deutungen einerseits dann als besonders mächtig zu adressieren, wenn es ihnen gelingt, in diesem Sinne Ordnungsgefüge in Frage zu stellen und Grenzen des Gefüges zu verschieben, und andererseits konträr genau dann, wenn sie in „stiller“ Weise durch Invisibilisierungsstrategien unsere Handlungsoptionen „wie selbstverständlich“ steuern. In diesem Kontext wird in der zweiten Förderperiode genauer zu bearbeiten sein, wie sich die geltende Deutungsmacht von religiösen Deutungsmustern oder Grundüberzeugungen eines belief systems in begrenzender Funktion gegenüber neuen Deutungen auswirkt, bzw. unter welchen Bedingungen es dann eben doch gelingt, dass zunächst singuläre, außergewöhnliche Deutungen gehört werden und Geltung erlangen können.

5) Deutungen sind notwendig perspektivisch und selektiv. Sie nehmen nur Ausschnitte der Wirklichkeit wahr und wählen entsprechend aus bzw. akzentuieren. Sie erfassen Bestimmtes und anderes nicht, sagen etwas und verschweigen anderes. Sie lassen uns die Welt aus einem bestimmten Blickwinkel wahrnehmen und verstehen (vgl. 2.). Dabei ist einerseits das Ganze der Welt als solches nicht deutungsfähig (Hastedt 2016, 24). Andererseits setzen sich Religion und belief systems narrativ-mythisch zum Ganzen der Welt deutend ins Verhältnis und fragen nach dem Woher, Wohin und Warum von allem. Das Ganze wird in einer be-stimmten Weise imaginiert, als umfassender Sinnhorizont oder Grund von Sein. Der deutende Bezug selbst ist aber selbstverständlich perspektivisch, begrenzt und fragmentarisch. So ist es z.B. für religiöse Rede in der Verbindung mit dem belief system der Aufklärung ein ganz zentrales Moment, dass sie sich von dem, worauf sie sich bezieht, immer grundsätzlich unterschieden weiß (Kant, Semler, Herder, Schleiermacher). Dass wir das Ganze nicht im Blick haben können – genau an dieser Kontingenzerfahrung arbeiten sich Religionen deutend unabschließbar ab und finden genau dafür symbolische, performative und narrative Deutungsmuster. Auf der anderen Seite kommt es in religiöser Perspektive genau dann zu vehementen Deutungsmachtkonflikten, wenn Deutungen mit Absolutheitsanspruch auftreten, indem sie die Selbstbegrenzung gerade nicht mitthematisieren, sondern z.B. durch Evidenzansprüche von Offenbarung zu überspringen versuchen. Ähnliche Muster lassen sich auch in kolonialen Situationen rekonstruieren.

6) Mehrdeutigkeit und die notwendige Perspektivität von Deutungen führen in Deutungskonflikte und verbinden sich mit Fragen nach der Wahrheit, wie es programmatisch seit Nietzsche differenzhermeneutisch verhandelt wird (Stegmaier 2014, Angehrn 2014). Je komplexer Deutungen werden, umso strittiger werden sie. Das gilt in besonderer Weise für die Themen des Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisses, die in Religionen deutend erschlossen werden und auch in den mythischen Strukturen komplexer belief systems aufscheinen und mit Begründungsleistungen von Weltstrukturen verbunden sind. Komplexe Deutungen führen mehr oder weniger ersichtliche Geltungsansprüche mit sich, die auf Zustimmung und Anerkennung angewiesen sind. Um diese zu erlangen, setzen sie bestimmte Strategien ein, z.B. metaphorische, narrative und rhetorische. So lässt sich Deutungsmacht in unterschiedliche Interventionsstrategien ausdifferenzieren, die entsprechend zu klassifizieren sind. In der zweiten Förderperiode soll die Kopplung von Deutungsmacht und Evidenzerzeugung genauer verfolgt werden (z.B. im Anschluss an Lethen/Jäger/Koschorke (Hg.) 2015). Deutungsmachtkonflikte werden in unterschiedlichen Konstellationen sichtbar, wenn einer Deutung (nicht mehr) gefolgt wird und ihr die Anerkennung verweigert wird, oder wenn eine Deutung durch eine andere Deutung abweichend oder konkurrierend ersetzt werden soll. Brisant wird es im Sinne eines Ausnahmefalles von Deutungsmachtkonflikten, wenn durch neue Deutungen umfängliche Ordnungsmuster, wie in Religionen oder belief systems vermittelt, in Frage gestellt oder völlig getilgt werden. Mit dem Geltungsanspruch geht einher, dass Deutungen eben gerade nicht nur deskriptive Anteile enthalten, sondern vielmehr imaginäre, fiktive und natürlich vor allem auch normative Dimensionen. Sie können mit starken Wertungen verbunden sein, die konfligieren.

 

  • Macht in Deutungsmachtperspektive

Komplementär zu der These, dass Deutung Macht implizieren kann, gilt, dass Macht Deutung impliziert. Denn Macht manifestiert sich, sofern sie wirksam wird, in ihren Darstellungs- und Deutungspraktiken. Um die „Variationen der Macht“ (Brodocz/Hammer 2013) in der Deu-tungsmacht genauer beschreiben zu können, ist der Machtbegriff aus verschiedenen theore-tischen Perspektiven in den Blick zu nehmen.

 

  • Akteursbezogene und institutionell-strukturelle Macht 

Wer spricht? Wer spricht in wessen Namen? Woher speist sich die Autorität des jeweiligen Sprechers: qua Amt, qua Rolle, qua Charisma, qua in Anspruch genommener höherer Macht? Oder kurz: „Wer hat das Sagen in Sachen Religion und Nicht-Religion?“ Diese Fragen stehen exemplarisch für akteursbezogene machttheoretische Zugänge zur Deutungsmacht, die sowohl personal als auch nichtpersonal zu denken sind. Sie sind am Vermögen bzw. der potestas orientiert und rekurrieren in handlungstheoretischer Perspektive auf Max Webers Definition, wonach Macht die Chance darstellt, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber, 51972, 28). In dieser Perspektive erscheint Macht als eine Form, „die von irgendwo ausgeht, an einer Stelle entspringt, und die von hier aus dann etwas bewirkt, prägt, erzwingt oder auch dominiert“ (Gehring 2016, 87).

In besonderer Weise hat sich in dieser Hinsicht der Begriff der Deutungsmacht zunächst exemplarisch im Kontext der Autorität des Akteurs des Bundesverfassungsgerichts entfaltet (Vorländer 2006, Schulz 2017). Nicht nur in politischer, philosophischer oder literarischer Perspektive jedoch ist die Frage nach dem Sprecher und seiner Autorisierung bzw. seiner Handlungsmöglichkeit und Überzeugungskraft eine zentrale, wenn es um Macht geht, sondern auch in religiöser und vor allem theologischer Perspektive ist die Fragerichtung in die eigenen Deutungshorizonte eingezeichnet. Das beginnt systematisch-theologisch bei Gedankenfiguren der Offenbarung und Geistvermittlung als Ermächtigungsfiguren, die dem Wort Dignität verleihen; zeigt sich in der Prophetentradition, gewinnt in der praktischen Theologie Relevanz bei Fragen nach dem Subjekt des Predigers im Verhältnis zum Text oder in der Rolle des Lehrenden als autorisiertem Sprecher in Vermittlungsprozessen; und ist religionswissenschaftlich präsent im Vergleich der Autorität heiliger Schriften als nicht-personaler Akteure oder beim Blick auf Divinationstechniken, die die Autorität des Sprechenden sowohl er- als auch entmächtigen und damit ganz wesentlich Deutungsmacht inszenieren und beanspruchen.

Dynamischer wird das Machtmodell, wenn die institutionellen und strukturellen Verflechtungen und Interdependenzen mitberücksichtigt und im Sinne eines komplexen Machtgefüges gedacht werden. Dann geht es nicht mehr nur um die einzelnen Akteure, nicht mehr nur um eine kausale Quelle, sondern um sozial beschreibbare Machtgefüge und Machtprozesse, die sich über Aushandlungsprozesse, Identifikationen und Partizipation aufbauen. Deshalb ist dieses Modell im politischen Raum von Hannah Arendt aus gerade im Rahmen von Demokratietheorien relevant (Laclau/Mouffe 2006, Lefort 1988). Formen dieser institutionell-strukturellen Macht kommen in den neuen Forschungsschwerpunkten der zweiten Förderperiode z.B. zum Tragen, wenn über die Deutungsmacht im Diskurs über Entwicklungshilfe nachgedacht wird und Institutionen über den Entwicklungsbegriff bestimmen (Regierungen, UNO, Wissenschaften) und ihn praktizieren (DOSCH); wenn zwischen verschiedenen Institutionen und deren Diskursen um das „Bestimmen und Verstehen“ des Islams deutungsmächtig gestritten wird (HOCK); wenn Bildungsinstitutionen in koloniale Umerziehungsprozesse deutungsmächtig verstrickt sind (MACKENTHUN) oder wenn zwischen Religionsgemeinschaften und Staat immer wieder um das angemessene Verständnis und die adäquate Form religiöser Bildung gerungen wird (KUMLEHN). Alle Formen kultureller, medialer und kommunikativer Macht, wie sie sich z.B. in kollektiven Narrationen, Mythen und Ideologien zeigen können, sind auch unter dem Aspekt struktureller Macht und ihrer Verbreitungsmöglichkeiten zu betrachten, die die Deutungsmacht wesentlich mit beeinflusst.

 

  • Modale und relationale Macht 

In einer spezifischen Deutung der Machttheorie Foucaults (Röttgers 1990, Rölli 2014, Gehring 2016) wird Macht vorrangig unter dem Aspekt der Ermöglichung bzw. Verunmöglichung im Sinne von potentia in den Blick genommen. Es geht um den Versuch, „Macht in ihren positiven Mechanismen zu analysieren“ (Foucault 2005, 224), wobei mit der Zuschreibung „positiv“ keine qualitative moralische Wertung verbunden ist, sondern die Betonung dessen, was Macht vermag bzw. eben auch nicht vermag – was sie ermöglicht und verunmöglicht. Die Beispiele Foucaults hinsichtlich der Pastoralmacht, der Biomacht und der Heterotopien zeigen dabei, dass dieser Machtbegriff nicht im Sinne einer Verharmlosung misszuverstehen ist, sondern gerade auch in der Macht der Begrenzung von Möglichkeiten sichtbar wird. In der modalen Perspektive organisiert Macht demnach Strukturen des Möglichwerdens von etwas bzw. die Verwirklichung von Möglichem und das Gegenteil im Sinne des Unmöglichmachens von etwas. Sie arbeitet auch an Grenzverschiebungen des für möglich oder unmöglich Gehaltenen. „Macht ist so besehen nicht Kraft oder Energetik, sondern Modalisierungsmodus und in einem gewissen Sinne ‚transzendental‘. Temporal betrifft sie die verbindliche Gestalt einer Gegenwart an der Schwelle zur Zukunft. Sozial gesehen gibt sie Konflikten um das, ‚was geht‘, ihre realen Bahnen. Machtökonomien sind im modalen Paradigma nicht nur ereig-nisoffen, sondern gewissermaßen ontologisch steigerbar: Nicht im Gegebenen gibt es Spielräume, sondern mögliche Wirklichkeiten können mittels dessen, was sie selbst an unerwarteten Optionen freisetzen, ‚wuchern‘.“ (Gehring 2016, 89).

Modale Macht zeigt sich in der Vielfalt ermöglichter Relationierungen und Neupositionierungen. Deshalb wird im Rekurs auf Nietzsche und Foucault die Produktivität der Macht hervorgehoben (Bernady 2014). Sie ist nicht nur eine verneinende Kraft, sondern Ermöglichungs- und Gestaltungsgrund oder -raum. Damit wird deutlich, wie notwendig eine Abgrenzung von Be-griffen wie Herrschaft und Gewalt ist, wobei Übergänge hier auch fließend sein können und genau beachtet werden müssen. Modale Macht steigt nicht mit dem Zwang, sondern mit der Erhöhung der erzeugten oder ermöglichten Alternativen, die sie vermitteln kann. „Im Gegensatz zur nackten Gewalt kann sich die Macht mit Sinn verbinden. Vermittels ihres semantischen Potentials schreibt sie sich einem Verstehenshorizont ein.“ (Han 2005, 37). Entsprechend hängen Macht und Wissen eng zusammen und Machtbeziehungen bringen einerseits Dispositive und Diskurse hervor und werden andererseits von diesen bestimmt. Foucault war insbesondere auf Machttechniken fokussiert, die sich über die Einwirkung auf den Körper einschreiben (Sexualität, Gefängnisse, Biopolitik). Die entsprechenden Diskurse zeigen die deutungsmächtigen Formationen, die Identität normativ prägen. Foucault hat allerdings auch gerade im Widerstand und Kampf gegen Machtkonstellationen gezeigt, wie beredt die Macht ex negativo bzw. die Störung der Ordnung sein kann, insbesondere dann, wenn es um Prophetie und Wahrsprechen – um das Konzept der Parrhesia geht, das sich gegen Widerstände behaupten muss (Gehring/Gelhard (Hg.) 2012).

Die Spuren modaler und relationaler Macht spielen in allen Forschungsschwerpunkten und Projekten des Kollegs eine zentrale Rolle. Modale Macht bleibt von daher ein unaufgebbarer Bezugspunkt in der Bestimmung von Deutungsmacht. Metaphern, Bilder, Mythen und Narrationen sind Deutungsmachtformationen, die bestimmte Perspektiven auf die Weltwahrnehmung eröffnen und diese zugleich neujustieren. In der Fiktionalität als Eröffnung eines Möglichkeitsraumes, eines Laboratoriums der Existenz (Ricoeur 1988/1989/1991, Koschorke 42017) zeigen sich die Spuren modaler Macht in exemplarischer Weise. Die Deutungsmacht von Religion und belief systems hängt wesentlich davon ab, wie ihre Sinnproduktion Alternativen des Selbst- und Weltverstehens erschließt und erweitert. Dabei werden in signifikanter Weise die Grenzen des Vorfindlichen transzendiert und damit in der Deutung imaginär über-schritten.

 

  • Deutungsmacht und Deutungsmachtanalyse

Ausgehend von dem Postulat, dass ein beweglicher Machtbegriff in Anschlag zu bringen sei, „der die divergierenden Vorstellungen von der Macht in sich zu vereinigen vermöchte“ (Han 2005, Vorwort), sollen im Deutungsmachtbegriff folgende Aspekte zusammengeführt werden:

Deutungsmacht ist akteursbezogen (personal und nicht-personal) und institutionell-strukturell bedingt das Vermögen zur Deutung und zur Machtausübung durch Deutung sowie die Möglichkeit zur Ermöglichung bzw. Verwirklichung einer Deutung bzw. deren Negation. Vom Urheber der Deutung aus ist sie die Macht zur Durchsetzung und vom Adressaten aus die zur Anerkennung. Deutungsmacht in modaler und relationaler Perspektive nimmt zugleich die Macht der Deutung selbst in den Blick, der aufgrund ihrer metaphorischen, narrativen, rhetorischen, performativen und diskursiven Strategien das Vermögen zur Änderung bestehender semantischer oder kommunikativer Ordnungen zukommt, die sie irritiert, stört, erweitert, reformiert oder revolutioniert. Deutungsmacht kann als vierstellige Relation zwischen Akteur/Agent – Ordnung – Medium – Rezipient begriffen werden (vgl. Stoellger 2014, 36, 38).

Von daher ist Deutungsmacht eng mit Kommunikationsmacht verbunden. Macht gilt als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das in spezifischer Weise die Chance bezeichnet, unwahrscheinliche Kombinationen und Selektionen in Kommunikationsprozessen zu ermöglichen (Luhmann 42012). Reichertz (2009) versteht „Kommunikationsmacht“ als solche, die sich in kommunikativen Handlungen aufbaut und entfaltet. Neben der Autorität des Sprechers dienen die Sprache und Sprechen selbst sowie soziale Beziehungen als Ressourcen dieser Kommunikationsmacht. Sowohl der Produktions- als auch der Rezeptionsaspekt sind im Blick, die sich in verschiedenen Interpretationsgemeinschaften wechselseitig durchdringen. Die Macht einer Deutung stammt weder vom Akteur noch vom Rezipienten allein, sondern entsteht in deren Kommunikationsverhältnis, das strukturiert wird durch vorgängige, medial vermittelte Ordnungen, wie sie sich in Narrationen, Mythen und Ideologien zeigen können. Dabei entsteht und reproduziert sich Deutungsmacht performativ, im Zuge ihres bewussten und unbewussten Ausagierens (Bourdieu 2001, Butler 2010), wie es verschiedene Forschungsschwerpunkte des Kollegs fokussieren (KLIE, MACKENTHUN, WODIANKA, HOCK, KUMLEHN).

Jeder Pol der Deutungsmacht kann dabei auch vielfältig mit Fragen der Wirkmacht oder Wirkmächtigkeit verbunden werden. Was will ein Akteur mit der Deutung bewirken? Wie wirkt eine Deutung in verschiedenen medialen Vermittlungen? Welche Wirkungen erzielt eine Deutung beim Rezipienten – und aufgrund welcher Strategien gelingt ihr das? Die Frage der Wirkungsmacht ist demnach eine spezielle Perspektive von Deutungsmacht, ohne dass Deutungsmacht in Wirkmacht aufgehen würde. Dabei verbindet sich Wirkmacht auch mit Vorstellungen von Dynamis, Effizienz und Kraft, die Deutungen entfalten können. Darüber hinaus kann Deutungsmacht zu „Phänomene[n] der Macht“ (1992) ins Verhältnis gesetzt werden, die Popitz als instrumentelle Macht (arbeitet mit Sinn und Kommunikation), autoritative Macht (resultiert aus dem Orientierungswillen der Mächtigen und dem Orientierungsbedürfnis der anderen) und als datensetzende Macht (greift über Artefakte in natürliche Verhältnisse ein) bezeichnet hat.

Mit Blick auf die Deutungsmachtanalyse sind drei Modi von Deutungsmacht zu unterscheiden:

Im Fall stiller, latenter Deutungsmacht, die trotz des problematischen Begriffs als Normalfall bezeichnet werden kann, ist Deutungsmacht bereits anerkannt, erscheint von daher quasi als selbstverständlich und wird nicht als solche thematisch bzw. problematisiert. Gerade darin erweist sie sich jedoch als besonders mächtig. Ihre Genese ist verdeckt und ihre Geltung wird manifest in Handlungskoordination bzw. Orientierungsfunktion, die auf Einverständnis im Sinne Webers beruht. Bezeichnend dafür sind Prozesse der Institutionalisierung und Methodisierung: Was zur Regel, Ordnung, Gewohnheit oder Gesetz geworden ist, gilt, weil es anerkannt ist und befolgt wird. Das Amt von Ordnungsrepräsentanten wie Richtern, Lehrern oder Pastoren kann als Deutungsmachtinstitution wahrgenommen werden, auch wenn das spätmodern sicher fragil geworden ist. Strukturell wirkt die soziale Ordnung oder das Regelsystem einer Sprache als latente Deutungsmacht, die die Möglichkeiten unserer Handlungs- und Ausdrucksformen einerseits allererst ermöglicht, andererseits jedoch auch begrenzt.

Dispositive im Sinne Foucaults und der Habitus im Sinne Bourdieus stehen darüber hinaus für Formen latenter Deutungsmacht. Der Habitus verkörpert Macht in Form von Wahrnehmungsschemata, die auch die Aufnahmebereitschaft und Empfänglichkeit für bestimmte symbolische Deutungsmuster präfigurieren (vgl. Bourdieu 2001, 219). Einen präreflexiven Habitus zu erschließen, ist eine große Herausforderung für die Deutungsmachtanalyse, denn er kann nur über Spuren der Macht (Röttgers 2002), die sich medial und kommunikativ zeigen, bewusstgemacht werden (Witte 2017). Deutungsmachtanalyse muss sich demnach der Erhellung kulturellen Kapitals in inkorporiertem Zustand (Habitus), objektiviertem Zustand (Texte, Bilder usw.) und institutionalisiertem Zustand (Bildungsformationen) nachgehen (Barlösius 22011). Zudem sind die dazu querliegenden Formen des symbolischen Kapitals und ihre Analyse vor allem für die Felder Religion und Kunst von besonderer Bedeutung.

Die von Bourdieu erwähnte Macht der Mythen und Narrationen steht im Zentrum der Deutungsmachtanalyse im Kolleg. Im zweiten Förderzeitraum soll hier profilbildend weiter gearbeitet und neu akzentuiert werden, indem religiöse und kulturelle Gründungserzählungen in ihren symbolischen Machtfacetten sowie deren z.T. transkulturellen Brechungen und Vermittlungsformen untersucht werden (GÄRTNER, WODIANKA, KUMLEHN, MACKENTHUN), politische Mythen und politischer Glaube in belief systems unterschiedlichen Zuschnitts vergleichend in den Blick genommen werden (BIZEUL, DOSCH) und medial vernetzte Resonanzräume moderner Mythen in Literatur und Film (WODIANKA) verfolgt werden.

In der Negation funktioniert latente Deutungsmacht nicht nur über geteilte Zustimmung und Anerkennung, sondern auch über geteilte Ablehnung. Das spielt in Konstruktionen des Fremden und des Feindes eine Rol-le und zeigt sich in Mechanismen der deutungsmächtigen Stigmatisierung und Exklusionen sowie in Invisibilierungs- und Interventionsstrategien (LINDE, BIZEUL, MACKENTHUN, HOCK, KLIE). Wenn Deutungsmacht im Konfliktfall strittig wird, erweist sie nicht mehr oder noch nicht als selbstverständlich anerkannt, sondern steht zur Disposition und ist legitimierungsbedürftig. Dann wird sie sichtbar und explizit thematisch. Hinsichtlich der immer um Konsens im Dissens ringenden spätmodernen Gesellschaften mit ihren widerstreitenden Deutungskulturen kann jedoch in einer nahezu paradoxen Zuspitzung der Konfliktfall selbst gerade als der Normalfall von Deutungsmacht angesprochen werden. Deutungsmachtanalyse im Zeichen des Konflikts verlangt in besonderer Weise die Aufmerksamkeit für die kommunikativen, rhetorischen und performativen Vermittlungsformen dieser Konflikte. Deutungsmacht muss im pluralen Kontext errungen und verteidigt werden, indem mediale Aufmerksamkeit erzielt wird. In der zweiten Förderperiode soll deshalb das Verhältnis von konfligierenden Deutungen und das Ringen um Wahrheit im Kontext des Pluralismus sowie in transkulturellen oder gesellschaftlichen Übergangssituationen genauer in den Blick genommen werden. Denn die Frage bleibt durchaus virulent, wie ein Wahrheitsbegriff zu formatieren ist, der zugleich die Notwendigkeit und Unhintergehbarkeit pluraler Wirklichkeitsdeutungen festhält und den Streit um Wahrheit im Wirklichkeitsverstehen dennoch nicht aufgibt. Beides verbindet sich mit Fragen nach der Wirkmächtigkeit von fake news und Möglichkeiten, diese zu unterbinden, wenn doch „nur“ Deutung gegen Deutung steht. Auch die Bereitschaft „glauben zu wollen“ – vielleicht sogar gegen besseres Wissen – in belief systems und Religionen ist deutungsmachttheoretisch relevant (BIZEUL, HASTEDT). Wie verhalten sich die präreflexiven deutungsmächtigen Glaubensformen, die handlungsleitend durchaus auch Entlastungsfunktion haben zu den Interventionsmöglichkeiten und Anstrengungen der Vernunft, die die Berechtigung der Deutungsmächtigkeit dieser Grundüberzeugungen befragen will?

Gerade in kritischer Reflexion der Einsicht, dass uns Wirklichkeit nur in Deutungen zugänglich ist, soll Deutungsmachtanalyse dazu beitragen, Wahrheitsansprüche einerseits freizulegen, aber auch gleichzeitig den Streit um die Geltungsansprüche nicht in einem unkritischen Nebeneinander pluraler Deutungen aufgehen zu lassen (HASTEDT, KUMLEHN). Man könnte auch sagen: aufgeklärte Deutungsmachtanalyse soll einen Beitrag zu einem „starken“ Pluralismus leisten. Konfligierende Deutungsmachtansprüche kommen zugespitzt in religiösen bzw. interreligiösen Auseinandersetzungen zum Tragen. Dieses Feld wird im Kolleg breit bearbeitet, wie Dissertationsprojekte zu konfligierenden sharia-Deutungen in Tansania, zu der umstrittenen Rolle des Islam in Tunesien zwischen den Deutungsmachtansprüchen des Staates und unterschiedlicher muslimischer Strömungen und zu Deutungsmachtansprüchen der orthodoxen Kirche in Syrien zeigen. In der zweiten Förderperiode wird diesbezüglich ausstehende wesentliche Grundlagenarbeit geleistet, indem Islamdiskurse und ihre Ansprüche auf Deutungsmacht untersucht werden (HOCK) In diesem Sinne sollen in der zweiten Förderperiode Deutungsmacht und Deutungsmachtkritik systematisch aufeinander bezogen werden – ähnlich wie Gehring Macht und Machtkritik zusammenführt (Gehring 2016). Dazu gehört die Arbeit der Aufklärung deutungsmächtiger Interventionsstrategien in Bildpolitik und der theologisch-ethischen Reflexion (auch digitaler) Deutungsmachtansprüche (LINDE) und eine Arbeit an Strategien zum Umgang mit Deutungsmacht-konflikten, auch in der postkonfliktiven Phase (HOCK, KUMLEHN, KLIE, MACKEN-THUN).

Der liminale Ausnahmefall von Deutungsmacht kann immer nur ex post erschlossen werden. Er ist dann zu konstatieren, wenn Deutungen Ordnungsgefüge in besonderer Weise irritieren und verändern, wenn Deutungen etwas von umfassender Bedeutung grundlegend neu und anders sehen lassen. Im Bereich der belief systems ließe sich diesbezüglich die über Gründungsnarrative und politische Mythen vermittelte Deutungsmacht von Aufklärung, Französischer Revolution, oder tabula rasa-Erzählungen wie die von der Stunde „Null“ 1945 in den Blick nehmen (BIZEUL, WODIANKA). Mit Bezug auf die jüdisch-christliche Religion gehören dazu alttestamentliche Gründungserzählungen zum Exodus oder die konfligierende narrative Konstitution einer idealen nachexilischen Gesellschaft bei Esra und Nehemia (GÄRTNER). Vor allem aber lassen sich so die neutestamentlichen Deutungen des Kreuzestodes Jesu Christi und die Deutung der Auferstehungserfahrungen als radikale Umdeutungen der Wirklichkeit verstehen, die alle gängigen Ordnungsvorstellungen und Deutungsmuster von Macht und Ohnmacht in Frage gestellt bzw. umgestellt haben (exemplarisch in der paulinischen Theologie). Luther hat dann gerade durch die Neuinterpretation der paulinischen Theologie seiner-seits die theologischen Deutungsmuster seiner Zeit und damit zugleich ihre Akteure und Institutionen radikal in Frage gestellt und dann auch verändert. Gerade die Geschichte der Reformation lässt aber das dynamische Verhältnis von Konflikt-, Ausnahme- und Normallfall von Deutungsmacht in ihrer geschichtlichen Entwicklung ansichtig werden. Denn im Ausgang von den reformatorischen Deutungen Luthers, die als Konfliktfall angelegt waren und sich dann als Ausnahmefall erwiesen haben, über die Deutungen der Reformation und ihre nachhaltige Wirkmächtigkeit bis hin zu einem neuen latenten Fall von unsichtbarer Deutungsmacht lässt sich so ein komplexer Zusammenhang von Genese, Geltung, Vergehen und dem Versuch eines immer wieder neu in Geltung-Setzens entwickeln, der sich in Bildungsprozessen und liturgischen Inszenierungen nachzeichnen lässt (KUMLEHN, KLIE).

 

  • Grenzen des Deutungsmachtkonzeptes

Wer zur Deutungsmacht arbeitet, ist selbst in Deutungsmachtprozesse verstrickt. Deshalb hat auch die Arbeit mit dem Deutungsmachtkonzept in Kenntnis der eigenen Verortung und Per-spektivität zu geschehen. Sie hat aufklärende, analytische, diskursanregende und nach der zweiten Förderphase in gewissem Sinne möglicherweise auch handlungsorientierende Kraft, kann aber den „Streit“ um die Sachen selbst weder stillstellen noch entscheiden – was ja auch gar nicht gewollt sein kann. Sie ist damit eine innovative Dimension in der Verschränkung von hermeneutischen Diskursen und Machtdiskursen, um in der Deutungsmachtperspektive Aspekte zu fokussieren, die sonst gar nicht gesehen würden. Deutungsmacht erweist sich als eine produktive Querschnittsdimension von Machtprozessen, die mit anderen Formen wie Kommunikationsmacht, Wirkmacht, Repräsentationsmacht produktiv ins Verhältnis zu setzen ist und dennoch eigenes zeigt.

Deutungsmacht zu beschreiben heißt jedoch immer auch in Deutungsmachtprozesse verwoben zu sein und damit in Formen des Betreibens von etwas. Das Deutungsmachtkonzept selbst ist deshalb auf seine normativen Ansprüche hin deu-tungsmachtkritisch zu reflektieren. Allerdings hat die erste Förderphase dabei gezeigt, dass es wichtig ist, sich in der analytischen Anwendung des Deutungsmachtkonzeptes in den Einzel-projekten nicht in metahermeneutischen Reflexionsschleifen zu verlieren, die dann die Erschließungskraft auch lähmen können. Virulent bleiben die Abgrenzungsfragen zur Aktionsmacht und zur Gewalt. Denn so deutlich sich Deutungsmacht von physischen Gewaltprozessen unterscheidet, so lassen sich doch auf symbolischer Ebene Übergänge zu Formen von Verletzungen im Sinne von Invisibilisieren, Stigmatisieren, Exkludieren und ähnlichem erkennen und müssen in die Deutungsmachtana-lyse einbezogen werden. (HOCK, MACKENTHUN, DOSCH). Die in der zweiten Förderperiode zu stärkende Deutungsmachtkritik soll einerseits die problematischen Tendenzen zur Unterdrückung in Deutungsmachtprozessen freilegen und zugleich insgesamt zu einem grenzbewussten Umgang mit dem Konzept beitragen. Dazu gehört eben auch, nicht bei der Analyse stehenzubleiben, sondern im Bewusstsein eigener normativer Anteile eines spezifisch verstandenen Deutungs- und Machtverständnisses auch nach Gelingensbedin-gungen im Umgang mit Deutungsmachtkonflikten zu fragen und dabei Konzepte von Differenzhermeneutik konstruktiv einzubeziehen.

 

  • Religion und belief systems als Gegenstandsbereiche der Deutungsmachtanalyse

Religion – im generischen Sinne – und belief systems werden im Kolleg gleichermaßen als besonders relevante Phänomenfelder und Gegenstandsbereiche der Deutungsmachtanalyse avisiert, was die Interdisziplinarität des Kollegs fordert und fördert. Denn alle Ausdrucksformen von Glauben bzw. individuellen und kollektiven beliefs können sich in besonderer Weise mit Geltungs- und Deutungsmachtansprüchen verbinden, weil sie miteinander um eine orientierende Selbst- und Weltdeutung konkurrieren und auf Anerkennung angewiesen sind. Diese Anerkennung kann nicht qua objektiv zu erbringendem Wahrheitsbeweis, sondern nur aufgrund bestimmter Gewissheitserfahrungen und deren symbolischer Ausdruckskultur bzw. bestimmter Zuschreibungspraxen oder Bewahrheitung durch Handlungspraxis (Pragmatismus bei Peirce, James und Dewey) gewonnen werden. Schon Bourdieu hat konstatiert, dass jede Form symbolischer Macht auf eine Theorie des Glaubens bzw. auf eine Theorie der Erzeugung von Glauben angewiesen ist (Bourdieu 1998, 174).

Dabei sind Religion und belief systems einerseits eng aufeinander zu beziehen, andererseits auch deutlich zu unterscheiden. Religion ist nicht ohne beliefs im Sinne von elementaren Formen des Glaubens oder Überzeugungen zu denken, d.h. jede Religion ist ein belief system, aber nicht alle beliefs bzw. belief systems sind religiös grundiert, sondern sie finden sich in den unterschiedlichsten Überzeugungszusammen-hängen, wie z.B. im Kontext von „Glaube und Politik“ (Bizeul 2009) oder aber auch in Form weltanschaulicher Grundüberzeugungen in verschiedenen Wissenssystemen wie Naturwissenschaft und Technik (Sandkühler 2002), nicht zuletzt im Modus von Technikglauben oder Glauben an big data oder die Macht der Algorithmen (Reichert 2014). Der kritische Vergleichspunkt zwischen Religion und belief systems ist daher der „belief“ und dessen jeweiliger Deutungsmachtanspruch nach innen und nach außen (vgl. zu einer umfassenden Theorie des Glaubens Schulz 2001, Hunziker 2008). Bei allen Unterschieden hinsichtlich der spezifischen Semantik und rituellen Pragmatik sind Religion und belief systems jedoch auch durch bestimmte symbolische Formen und Medien miteinander verbunden, in denen sich ihre Deutungsmachtan-sprüche in besonderer Weise vermitteln. Dazu gehören Narrationen und Mythen, Rhetorik und Performanz in besonderer Weise, so dass sie im Kolleg projektübergreifend als Repräsentationsformen von Deutungsmacht in Religion und belief systems untersucht werden. Diese Bezüge und die Bereichsspezifika von Religion und belief systems sollen im Folgenden dargelegt werden.

 

  • Religion

Im Kolleg wird einerseits die Deutungsmacht von Religion untersucht, sofern ihre Deutungen in Formen narrativer, symbolischer, metaphorischer, ritueller und diskursiver religiöser Kommunikation selbst Deutungsmacht beanspruchen und entfalten (GÄRTNER, LINDE, KLIE, KUM-LEHN). Andererseits kommt auch die Deutungsmacht über Religion, d.h. die Formen der Rede über Religion in den Blick. In der ersten Förderperiode ist das am Diskurs um Säkularisierung und in Diskursen zum Religionsverständnis gezeigt worden (Stoellger/Kumlehn 2017). In der zweiten Förderperiode soll diese Fokussierung der Rede über Religion aufgrund der Dringlichkeit der Fragestellung und als Rekurs auf neue einschlägige Dissertationsprojekte der zweiten Kohohrte in vergleichbarer Weise mit Blick auf Islamdiskurse verfolgt werden (HOCK). Im Kolleg wird dabei eine mehrdimensionale Bestimmung von Religion zugrunde gelegt, die funktionale Theorien mit hermeneutischen Aspekten kombiniert. Demnach wird Religion als eine irreduzible kulturelle Form funktionaler Relationen (Cassirer) verstanden, die manifest wird in symbolisierenden und organisierenden Praktiken (Schleiermacher, Ricoeur) mit spezifischer Codierung und Semantik zur Deutung von Erfahrung von Selbst, Welt und Gott (Laus-ter, Korsch, Stoellger) zum Zweck von Orientierung (Stegmaier) bzw. Ordnung (Waldenfels) in der religiös gedeuteten Wirklichkeit. (vgl. Stoellger 2014, 4f). Dieser Religionsbegriff ist kulturhermeneutisch und phänomenologisch angelegt, zugleich jedoch anschlussfähig an religionssoziologische, systemtheoretische, diskursanalytische Perspektiven (vgl. schon Stark/Glock 1968). Die Fokussierung der Verhältnisse von Deutung und Macht erfordert eine entsprechende Kombination von strukturanalytischen und semantisch-hermeneutischen Zugängen.

Die Definition von „Religion als Kommunikation“ (Luhmann 2000), die codiert wird durch die Leitdifferenz Transzendenz/Immanenz in semantischer Näherbestimmung, wird kritisch aufgenommen und auf aktuellem Forschungsstand weitergeführt: Religion als Kommunikation und Kommunikationsmedium impliziert nicht nur Darstellung und Mitteilung, son-dern notwendigerweise auch Verstehen (Krech 2011, 32ff). Religion wird nicht wie bei Luhmann auf Kontingenzreduktion reduziert, sondern als umfassende Kontingenzkultur und -deutung verstanden, die Kontingenz als Kontingenz bewusst hält, das nicht Sagbare nicht nur in Sagbares überführt, sondern das Wissen um das bleibend Unsagbare aufrechterhält (Dalferth/Stoellger 2000). Da Religion immer positiv gegeben ist, reicht die Code- und Funktionsbestimmung nicht aus. Denn Religion begegnet nur in historisch und kulturell vermittelten Variationen konkreter Religionsformen, anhand derer sie der Analyse in verschiedenen Wissenschaften zugänglich wird. Ihre Symbolisierungsprozesse haben eine spezifische Semantik und Pragmatik, die subjektive Innenperspektiven und Gewissheitserfahrungen im Horizont der Idee des Transzendenten in kulturellen Manifestationen zum Ausdruck bringen (Glaubensbekenntnisse, Erfahrungszeugnisse, Erlebnisberichte in Sprache, Bild und Ritus).

In ihren medialen Darstellungs- und Repräsentationspraktiken deuten Religionen Wirklichkeit und beanspruchen für ihre Selbst- und Fremddeutungen Geltung. Genese und Geltung sowie Kommunikation und Funktion dieser religiösen Deutungen sind klärungs- und differenzierungsbedürftig. Insbesondere dogmatische Setzungen wie die Rede vom Wort Gottes oder von Offenbarung sind hinsichtlich ihrer impliziten und expliziten Deutungsmachtansprüche transparent zu machen, wenn sie kritisch verstanden werden sollen. Denn gerade in diesem Kontext kann Deutungsmächtigkeit dadurch beansprucht werden, dass der Deutungscharakter einer Deutung unsichtbar gemacht wird. Wenn eine Deutung möglichst unstrittig in religiöser Rede oder in der Rede über Religion gelten soll, wird entweder eine höhere Autorität (Gott) als Quelle in Anspruch genommen oder aber die Genese der Geltung einer Aussage wird deutungsmächtig selbst zum Verschwinden gebracht wie in religiösen Mythen. Die in unterschiedlicher Rekonstruktionsperespektive auf Religion bezogenen Projekte (GÄRTNER, LINDE, KUMLEHN, KLIE, HOCK) intendieren deshalb keine Deutungsmachtgenerierung, sondern Deutungsmachthermeneutik und Deutungsmachtkritik.

Die religiösen Deutungspraxen sollen in deutungsmachttheoretischer Perspektive im kulturellen Kontext verstanden werden. Folgende Fragen sind dabei leitend: Wie werden religiöse Gründungsnarrationen mächtig (GÄRTNER)? Wie lassen sich religiös relevante Interventionen semiotisch verstehen (LINDE)? Wie entfalten Narrationen und Rhetorik Deutungsmacht in religiösen Bildungsprozessen bzw. werden einer kritischen Reflexion in diesen zugänglich (KUMLEHN)? Wie entfalten Performanz und Deixis Deutungsmacht in riskanten Liturgien (KLIE)? Wie verhalten sich gelebte und gelehrte Religion hinsichtlich ihrer deutungsmächtigen individuellen und kollektiven Identitätsstiftung in Bildungszusammenhän-gen und gottesdienstlichen Vollzügen zueinander? (KUMLEHN, KLIE) Wie ist mit intra- und interreligiösen Deutungsmachtkonflikten umzugehen? (HOCK, KUMLEHN).

 

  • belief systems 

Der religionsphilosophisch geprägte Begriff der belief systems wird Alternativen wie „funktio-nale Religionsäquivalente“ oder „civil religion“ als Bezeichnung vorgezogen, um sowohl die interessanten deutungsmachtaffinen Vergleichsstrukturen für das interdisziplinäre Gespräch zu eröffnen und zugleich die diskursive Vereinnahmung anderer belief systems unter dem Vorzeichen von Religion programmatisch auszuschließen. Dabei wird aufgrund der offenen Bedeutungsränder der Begriffe Religion und belief system und der phänomenbezogenen Schnittmengen jedoch in Kauf genommen, dass die Verhältnisbestimmung und Abgrenzung immer wieder thematisch werden muss. Dabei ist im Blick, dass Deutungsmachtkonflikte nicht nur innerhalb des religiösen Feldes auftreten können, sondern auch innerhalb konkurrierender belief systems und zwischen Religion und belief systems in konfligierenden Deutungen von Natur, Kultur, Gesellschaft, Lebenssinn- und Lebensformen. Auch hier sind Überschneidungen, Konvergenzen und Konfliktkonstellationen gleichermaßen zu berücksichtigen. Das zeigt sich z.B. bei der Frage, wie Religion und politische beliefs signifikante Verbindungen eingehen können bis zum Phänomen der „politischen Religionen“.

Die Ambivalenz dieser Verbindungen bis zur Bedrohung gesellschaftlicher Ordnung und menschlichen Miteinanders ist in Vergangenheit und Gegenwart präsent. Die gekoppelten oder sich wechselseitig verstärkenden beliefs (WODIANKA) können zu intensivierten oder gar totalisierenden Deutungsmachtansprüchen führen, die für die Arbeit im Kolleg eine besondere Herausforderung darstellen (HOCK, BIZEUL, MACKENTHUN). Das steigert sowohl den Komplexitätsgrad der Untersuchungsgegenstände als auch das wechselseitige Erschließungspotential, so dass auch für die zweite Förderperiode der Forschungsbedarf ungebrochen ist bzw. aufgrund der gesell-schaftlichen Entwicklungen in genau diesem Bereich gesteigerter Anstrengungen des Verstehens und Aufklärens bedarf. Als Ausgangspunkt der Begriffsbestimmung dient Wolterstorffs Definition von belief systems als „totality of a persons’s beliefs at a given time – not the totality of jugdements she ist mak-ing at that time but the totality of beliefs she holds at that time. Such a totality is not just a collection. It’s structured, organized; it’s a system“ (Wolterstorff 2001, 235).

Hier brechen allerdings auch schon Fragen auf, die die Forschungsanliegen im Kolleg zentral betreffen und weiterer Klärung bedürfen: Wie verhalten sich individuelle und kollektive beliefs zueinander? Wie ist der Systembegriff bzw. die Verknüpfung einzelner beliefs zu einem Clus-ter oder gar einem System zu denken? Gibt es eine deutungsmächtige, übergeordnete Struktur oder Leitidee, die einzelne beliefs zusammenhält bzw. wie wird der Zusammenhang kon-struiert und systematisiert? Das Kolleg diskutiert, von einem strukturierten Netz von beliefs auszugehen, in dem sich Individuen und Gruppen mehr oder weniger reflektiert verorten und Weltorientierung gewinnen. Dabei bleibt genauer zu fragen, wie das Verhältnis von Person und belief system zu denken ist: Hat die Person das belief system oder verortet sie sich in ihm bzw. wie ist beides zusammenzudenken? (LINDE) Durch Hierarchisierungs- und Organisationsprozesse entstehen strukturierte Cluster von beliefs, die mit unterschiedlicher Tiefenschärfe, unterschiedlicher diskursiver Sichtbarkeit, unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlichen Repräsentationsformen kulturell verankert sind (Wodianka, Ringvorlesung Deu-tungsmacht 2017). Dabei bewegt auch die Frage, wie die latente Deutungsmacht von beliefs in die Urteilsbildung einfließt bzw. welches Verhältnis zu vorgängigen deutungsmächtigen individuellen oder kollektiven beliefs eingenommen werden kann (LINDE, HASTEDT). An der Encyclopédie von Diderot kann untersucht werden, wie die Aufklärung an der Verschiebung oder subversiven Unterwanderung von belief systems arbeitet, indem einzelne beliefs umgedeutet werden und ihre Hierarchisierung verändert wird (WODIANKA). Zudem wird gefragt, welche Rolle Deutungsmacht in der Formung und Vermittlung von beliefs spielt (KUMLEHN, KLIE, MACKENTHUN).

In der Deutungsmachtforschung im Kolleg steht jedoch vor allem der Zusammenhang von Narration/Mythos und belief systems im Fokus. Dabei kann eine doppelte Perspektive verfolgt werden: Der Mythos kann selbst als belief system verstanden werden (WODIANKA) oder als Bestandteil von belief systems (BIZEUL). Mit Blick auf den politischen Mythos, aber nicht nur auf ihn bezogen, stellt sich dann auch die Frage nach dem Zusammenhang von belief systems und Ideologie. Politische Mythen haben selten die Form von systematisch aufgebauten Ideologien und werden nur gelegentlich von Ideologieproduzenten von oben festgelegt (vgl. Converse 2006). Allerdings werden politische Ideologien in der Literatur oft auch als Mythen bezeichnet oder eng mit ihnen in Verbindung gesetzt (vgl. etwa Flood 1996, Pfahl-Traughber 1993, Apter 1985). Bizeul schlägt jedoch eine klare Unterscheidung von Ideologien und Mythen vor, wobei politische Mythen sehr wohl ideologisch instrumentalisiert werden können. Das ruft die Frage nach der normativen Bewertung von belief systems auf:

“One can evaluate a person's belief-system and the processes and practices that produced it, from two broadly contrasting perspectives. When evaluating the system from one of these two per-spectives we ask how that belief-system, and those processes and practices, are related to reality. We ask which of the beliefs in the system are true, which constitute knowledge, what is the proportion of true to false beliefs yielded by the various processes and practices, and so forth. When evaluating the system from the other perspective we ask whether the system itself is in good order. lt can be in order or disorder in various ways. lt may contain inconsistent beliefs; that's one mode of disorder. And it may contain non-entitled beliefs; that's quite a dif-ferent mode of disorder” (Wolterstorff 2010, 330).

Die Forschungsfragen des Kollegs haben folglich immer eine funktionskritische und eine ideologiekritische Dimension. In Demokratien braucht man politische Mythen, um gemeinsame Ideale zu verinnerlichen, Orientierung zu stiften und Integration zu fördern. Dadurch entsteht ein gemeinsames belief system und eine gemeinsame Deutung, die Grundlagen des „nichtkontroversen Sektors“ (vgl. Fraenkel 1990) sind. Aus den geteilten Mythen kann eine Zivilreligion (so in den USA) entstehen oder eine besondere Einstellung zur Stellung der Religion im Staat entspringen (so die Laizität in Frankreich). In einer liberalen Demokratie existiert aber auch ein breiter „kontroverser Sektor“. In diesem Sektor tobt ein Kampf um die Deutungsmacht. Da die belief systems in der Demokratie nicht einheitlich und gleich strukturiert sind, sind die politischen Mythen selbst Gegenstand von Deutungen unterschiedlicher Art. Sie werden auch benutzt, um die Deutungen der Konkurrenten bzw. politische Gegner als illegitim darzustellen. Die Untersuchung von politischen Mythen erlaubt den Kampf um die Deutungsmacht tiefgründiger zu denken (BIZEUL, DOSCH). Religion und belief systems sind auf deutungsmächtige Narrationen und (moderne) Mythen angewiesen. Diese können interagieren und Resonanzräume in verschiedenen Medien bilden (WODIANKA). Die Aufmerksamkeit für die Deutungsmachtstrategien von Gründungserzählungen lassen zugleich die Tradition besser verstehen und aufmerksam für kulturelle Konflikte in postkolonialer Situation werden (GÄRTNER, MACKENTHUN).

Einrichtungsantrag

Heiner Hastedt

Heiner Hastedt

Zur Macht der Semantik. Grundbegriffliche Klärungsversuche der ‚Deutungsmacht‘

„Das Wort ward Fleisch“ präsentiert am Anfang des Johannesevangeliums eine selbstgewisse Formulierung der Macht der Semantik. Dass Worte und überhaupt semantische Gehalte Wirkung und Macht in der Realität entfalten, ist in der europäisch-abendländischen Zivilisation lange unbefragt geblieben. Mit der modernen Unterminierung von immer mehr Selbstverständlichkeiten verliert auch die Macht der Worte und der Semantik überhaupt ihre Unbefragtheit. Thomas Hobbes legt eine Theorie der Macht vor, die ganz nebenbei auch die überlieferte aristotelische Semantik obsolet macht und der Lächerlichkeit preisgibt. Seiner Radikalität wollte zunächst kaum jemand folgen, aber der Spaltpilz befällt doch nach und nach die selbstverständliche und unbefragte Bezogenheit von Deutung und Macht. Mit Karl Marx und mehr noch mit Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud werden semantische Gehalte zu Ideologien, die sich machttheoretisch auch ohne jene beschreiben lassen.
„Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären soll, weiß ich es nicht.“ Was Augustinus in seinen Confessiones für die Zeit notiert, gilt auch für die Deutungsmacht: Die Substantivreihung von Deutung und Macht kann auf unmittelbare Evidenz setzen, die schnell in Schwierigkeiten gerät, sobald man begriffsklärend anfängt, über Deutungsmacht mit philosophischen Mitteln zu reflektieren. Theoretische Schwierigkeiten mit dem Begriff der Deutungsmacht lösen die Ausgangsevidenz auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass „Deutung“ in der hermeneutischen Verstehens- und „Macht“ in einer soziologisierenden Erklärungstradition stehen. Kann es vor diesem Hintergrund überhaupt eine rein philosophisch-begriffliche Klärung der „Deutungsmacht“ geben oder lediglich eine reflektierte Benutzung des Begriffs in empirienahen Kontexten? Um zu erörtern, ob Worte (und semantische Gehalte) als Deutungen die Macht haben, die Welt zu verändern, lässt sich eine doppelte Denkbewegung ausführen: Zum einen drängt sich eine Auseinandersetzung mit Positionen auf, die meinen, auf Semantik machttheoretisch verzichten zu können. Zum anderen empfiehlt sich die Analyse und Kritik von philosophischen Modellen, die Macht und Semantik neu aufeinander beziehen und das Verhältnis so positiv klären wollen.
Mit der neuzeitlichen Freisetzung der theoretischen Neugierde entsteht ein reduktiver Sog, der immer stärker monistische Welterschließungsmodelle begünstigt. Dies gilt auch für das Verhältnis von Macht und Deutung. Wenn ein Anti-Aristoteliker wie Thomas Hobbes, der nur die mechanistisch-materialistische Seite des Cartesianismus ausbaut, den Menschen allein als zweckrationalen Interessenmaximierer versteht und die traditionellen Sinn-Kontexte überwindet, liefert er ein Muster für neuzeitliche Auflösungsversuche der Semantik als eigenständige Dimension. Dieser Versuch führt auf direktem Wege zu Carl Schmitt als Hobbes-Anhänger im 20. Jahrhundert. Für ihn entsteht die Macht der Deutung aus rein setzender Dezision. Sich im Medium der Worte aufeinander zu beziehen und sich auseinanderzusetzen wird obsolet. In der breiten Geschichte der Ideologiekritik mit Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud als ihren Klassikern dominiert das Interesse an dem hinter der Semantik zu Entdeckenden – sei es als ökonomische Klassenlage, Leben oder Unbewusstes verstanden. Deutungen sind eben nur vorgeschoben. Auch soziologisierende Machtdeutungen wie die von Max Weber neigen zum Semantikverzicht, wenn die Macht der Deutung semantikextern auf Charisma oder auf sozialen Bezüge wie Institutionalisierungen, aber auch auf Gewalt und Herrschaft bezogen werden.
Um der semantikverzichtenden Tendenz zu entkommen, sind Untersuchungen hilfreich, die nachweisen, dass auch Semantikverächter gegen ihre Absicht den Verzicht nicht systematisch hinbekommen. Steht hinter dem vermeintlich rational eingeführten „Leviathan“ bei Hobbes nicht doch eine Narration? Haben die Ideologiekritiker nicht Schwierigkeiten mit der Selbstanwendungsfigur, so dass sie zwangsläufig zwischen guten und schlechten Reduktionen unterscheiden müssen? Ist nicht Max Weber neben dem nüchternen Machttheoretiker auch der verstehende Soziologe, der Worte sehr ernst nimmt? Zeigt sich nicht eine Neueinschätzung bei syntaxorientierten Programmen der Künstlichen Intelligenz, dass man in der Programmierung doch nicht vollständig auf Sinn verzichten kann? Sind die größten Reduktivisten unter den Neurobiologen nicht Wissenschaftlicher, die uns Sinn-Geschichten „aus der Sicht des Gehirns“ (Gerhard Roth) erzählen?
In der Gegenbewegung zu einer Reduktionsstrategie ist zunächst Paul Ricœur mit seiner spezifischen Lesart von Freud besonders interessant, weil er eine Form der Ideologiekritik in die Welt der Interpretationen zurückholt. Deutungen entfalten Macht als Symbole mit einem Doppelsinn, der interpretationistisch erschließbar ist. Das Triebschicksal eines Menschen ist im Medium der Deutungen bearbeitbar, so dass Deutungen Veränderungsmacht haben: Trieb-Schicksale von Menschen werden für Ricœur zu Sinn-Schicksalen. Nach Ricœur können Deutungen Menschen also verändern. Selbst das Körperliche einbeziehende psychische Verletzungen sind durch die Macht der Worte veränderbar. Indem ein Therapeut Deutungen anbietet, kann der Patient in Auseinandersetzung damit heil werden – wo Es war, soll Ich werden. Kommt allerdings hierin nicht ein zu starker Deutungsoptimismus zur Geltung? Schon Susan Sonntag hat in „Gegen Interpretation“ dagegen Front gemacht und diese allgemeine Skepsis dann gegen psychosomatische Krebsdeutungen gerichtet. Menschen mit Krebsdiagnosen unterliegen demnach einer doppelten Tragik, insofern sie nicht nur diese Krankheit haben, sondern sich auch noch dem Verdacht aussetzen, aufgrund von psychischen Unzulänglichkeiten daran selbst schuld zu sein. Gegen die Überlastung der Deutungen muss daher ein Moment der Widerständigkeit des Leiblichen und des Körperlichen sowie generell eines Außen gedacht werden, dass durch Deutungen nicht einfach zum Verschwinden gebracht werden kann. Ähnlich wie bei Ricœur lohnt die Auseinandersetzung mit weiteren französischen Gegenwartsphilosophen wie Michel Foucault mit seiner Machttheorie und Pierre Bourdieu mit seiner Erörterung des Habitus. Beide Theoretiker wollen die Semantik beibehalten, ohne naiv von der Macht zu schweigen. Dementsprechend kann das Potential dieser französischen Philosophen genutzt werden, um analytisch die Eigenständigkeit der Semantik zu begründen.

Philipp Stoellger

Philipp Stoellger

Deutungsmachttheorie in theologischer Perspektive: Gottes Wort als Deutungsmacht

Theologie ist Machttheorie (wie im Dialog mit den philosophischen und soziologischen Machttheorien zu profilieren ist), die als Deutungsmachttheorie weiterentwickelt werden kann. Die Konflikte um Gottes Allmacht provozierten (konfliktive) Machttheorien, die vom ersten Artikel aus entwickelt wurden (creatio ex nihilo), die ausdifferenzierter trinitarisch, christologisch und rechtfertigungstheologisch bestimmt werden können.
Die Konflikte um Gottes Allmacht sind Deutungskonflikte von theistischem Allmachtsbegriff und antitheistischer ‚Ohnmachtstheorie‘. Am Ort des Gottesbegriffs geht es darin um Deutungskonflikte auf mehreren Ebenen: Ob Gott das theistische Prädikat der Allmacht zukommt oder ob u.a. aus christologischen Gründen dieses Prädikat aufzugeben oder umzuformen ist; ob Macht ‚gut oder böse‘ ist, also die theologisch-ethische Frage nach der semantischen Dis-/Qualifizierung von Macht. Zugleich geht es um einen Konflikt der theologischen (und religionsphilosophischen) ‚Systeme‘ bzw. Traditionen, die in den jeweiligen Positionen manifest werden. Gottes Macht in Gestalt von Gottes Wort als Deutungsmacht zu begreifen, kann einerseits die Machtimplikationen dieses Wortes und seiner Theologien explizieren, andererseits die irreduzible semantische Verfasstheit von Gottes Macht präzisieren. Sofern die Macht des Wortes deutungsmachttheoretisch mehrdimensional verfasst ist (Urheber, semantische Bestimmtheit, Performanz, Medien, Re-/Präsentation, Rezeption, Wirkungsgeschichte etc.), lässt sich die Frage nach dem Wie und Woher dieser Wortmacht genauer bestimmen. Dafür kann die hoch konfliktive Auseinandersetzung der zweiten Hälfte des 20. Jh. mit der ‚Wort-Gottes-Theologie‘ wie mit dem hermeneutischen Theorem des ‚Sprachereignisses‘ bis in die Gegenwart analysieren als Konflikte um das Verhältnis von Wort und Macht – am Ort des Gottesbegriffs, der Theologie, der Verkündigung und von Kirche und Gesellschaft. Am (verschieden beschreibbaren) ‚Vergehen‘ der Deutungsmacht des Wortes Gottes (der Theologie des Wortes Gottes, der Verkündigung, der paulinischen Theologie?, des Wortes gegenüber dem Bild s.u.) lässt sich eine Fallstudie zum Vergehen von Deutungsmacht (und der Genese alternativer?) ausarbeiten.
Über diese Deutungsmachtkonfliktanalyse hinaus soll ein Aspekt davon materialtheologisch (und zugleich ‚heilsmedientheoretisch‘) präzisiert und konstruktiv entfaltet werden. Mit der Deutung von Gottes Macht als ‚Freiheit in und aus Liebe‘ wird die Trinitätslehre verständlich als Entfaltung und Horizont der Rechtfertigungslehre: ‚Freiheit aus Liebe‘ ist die Kurzfassung christlicher Freiheit und die Rechtfertigungslehre somit der Logos, der das Ethos aus dem Pathos (der Widerfahrung) der Rechtfertigung expliziert. Die Rechtfertigungslehre als Kriterium und Geltungsgrund anderer Lehren (und der Schriftselektion) ist allein als Machtwort unterbestimmt, wenn nicht ihre pragmasemantische und medienkritische Funktion als Regulativ gesehen wird: Sie ent- bzw. ermächtigt bestimmte Deutungsformen und -praktiken. Sie prätendiert dabei, nicht gemachte, sondern durch Gott im Medium der Schrift gegebene Deutung zu sein (Deutungsermächtigungstheorem). In dieser (Selbst-)Deutung der Rechtfertigungslehre liegt eine Ambivalenz: Nicht dem Zirkel des Gemachtseins von Deutung entkommen zu können (analog dem hermeneutischen Zirkel). Dagegen essentialistisch zu argumentieren oder umgekehrt relativistisch zu werden, würde sie entsematisieren oder als alternativlose Deutung isolieren. Sie ist ein Deutungsmachtregulativ für Theologie und Kirche im Denken, Sprechen und Handeln. Deswegen hat sie auch deutungsmachtkritisches Potential gegenüber Theologie und Kirche, wie z.B. anhand der polemischen Barth- oder Hermeneutikkritik untersuchen wäre: Wer spricht, gegen wen, woher und mit welchem ‚theologiepolitischen‘ Deutungsmachtanspruch?