Mythos und Narration

Bizeul, Wodianka, Gärtner, Mackenthun, Kumlehn, Hock

Deutungsmächtige Narrative und Mythen spielen in Religion und belief systems eine zentrale Rolle und bieten sich zur Deutungsmachtanalyse in vernetzter und vergleichender Perspektive in besonderer Weise an. Biblische Gründungserzählungen spiegeln das konfliktive Ringen um religiöskulturelle Identität in Um- und Neudeutungsprozessen vorausgehender hegemonialer Erzählungen (GÄRTNER). Die Deutungsmachtperspektive trägt hier exemplarisch dazu bei, die Traditionen unter einem innovativen Aspekt zu rekonstruieren, der die biblische Hermeneutik wesentlich bereichert.

Um narrative Identitätsprozesse geht es auch im Kontext der Islamdiskurse. Nicht zuletzt erwächst die Deutungsmacht des IS aus dem Festhalten am Mythos einer wahren islamischen Gemeinschaftsordnung. Hier zeigt sich, wie der Mythos zu einer Verknüpfung religiöser und politischer beliefs beiträgt (HOCK). Aber nicht nur totalitäre Strukturen greifen auf Mythen zurück, sondern auch die Demokratie braucht mythische Narrationen. Politische Mythen werden im Kampf um Deutungshoheit eingesetzt und provozieren Gegenmythen. Die deutungsmächtigen Strategien und Inszenierungsmuster dieser konkurrierenden Mythen sind nachzuzeichnen (BIZEUL).

Neben der Funktion von Mythen für belief systems sind auch Mythen als belief systems hochrelevant. Mythische Erzählungen ermöglichen, intensivieren und steigern beliefs. Sie machen uns in einer bestimmten Weise sehen, glauben, handeln und bewirken eine spezifischer Erfahrungsweise der Wirklichkeit. Sie können die Deutungsmachtansprüche invisiibilisieren und damit so etwas wie evidente Wahrheit inszenieren. Mythen können nicht nur konfligieren, sondern sich vernetzen und stabilisieren, so dass sie die Deutungsmacht eines belief systems auf der gesellschaftlichkulturellen Makroebene stärken. In dieser Weise kann man von Resonanzräumen des Mythos oder von mythischen Clustern sprechen, die in ihrer Wechselwirkung durch unterschiedliche mediale Inszenierungen zu analysieren sind (WODIANKA).

In Kontexten des kolonialen oder postkolonialen Kulturkontaktes lassen sich Deutungsmachtkonflikte um Gründungserzählungen besonders intensiv nachzeichnen. Die Narrative der Eroberer geraten zunehmend in Widerspruch zu den Erzählungen der Kolonisierten. Wie können diese ihre Identität in Gegenerzählungen bewahren? Welche Deutungsmachtstrategien müssen zum Einsatz kommen, um Wissen kollektiv teilen und kanonisieren zu können, so dass aus individueller Wahrheitsfindung ein Wahrheitsnarrativ wird? (MACKENTHUN). Bildung wird einerseits nicht zuletzt in kolonialen und postkolonialen Strukturen deutungsmächtig funktionalisiert, andererseits kann Bildung auch zur Deutungsmachtsensibilität beitragen. So sollte in religiösen Bildungsprozessen genuin sowohl die Deutungsmächtigkeit von Narrativen in der Vermittlung im Blick sein als auch ein kritisches Instrumentarium zur Analyse dieser Geltungsansprüche mit Lernenden erprobt werden (KUMLEHN).